MANNHEIM / Nationaltheater: „INFINITE NOW“ (Chaya Czernowin)
Nach Grauen noch Oper?
Uraufführung 26.5. 2017 – Karl Masek
Das Ensemble und die Schrecken des Krieges. Copyright: Nationaltheater Mannheim
Es ist Chaya Czernowins drittes Musiktheaterwerk. 1957 wurde sie in Haifa geboren. Sie ist eine Kosmopolitin, lebt abwechselnd in Deutschland, Israel und Japan. Sie unterrichtete Komposition an der Wiener Musikhochschule von 2006 bis 2009, anschließend an der Harvard University, wo sie auch heute noch lehrt. Im Jahr 2006 ergänzte sie für die Salzburger Festspiele Mozarts Fragment „Zaide“ mit einem eigenen Fragment, „Adama“, und erzählte dabei die Geschichte von der unmöglichen Liebe zwischen einer Israelin und einem Palästinenser. „Musik“ ist für Chaya Czernowin „mehr als Harmonie, Melodie und Schöngesang,…, alles Hörbare kann zu Musik werden“, so die Komponistin.
Vom Musiksoziologen Theodor Adorno wurde 1949 der Satz geschrieben: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu scheiben ist barbarisch“ Ist also „Infinite now“, das sich mit anderen Gräueln, nämlich jenen des Ersten Weltkriegs beschäftigt (namentlich mit dem sinnlosen Sterben an der Westfront, das sich vor genau 100 Jahren, also 1917 ereignete), eine Oper? Jedenfalls nur bedingt, wenn man von „Oper“ stimmliche Vielschichtigkeit, Lyrik und Dramatik, Kantilenen, Arien, erwartet, kurz: Dass gesungen wird. Musikalisches Theater schon viel eher …
Czernowins Collage besteht aus Luk Percevals Theaterstück FRONT (samt eingelegten Texten aus Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“(2014 im Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt) und der surrealistischen Erzählung HOMECOMING der chinesischen „Autorin der Seelenzustände“, Can Xue, zusätzlich angereichert durch authentische Soldatenbriefe „aus den Schützengräben“.
„Infinite now“ ist also weit davon entfernt, eine Oper mit Lyrik, Dramatik, Kantilenen und Arien zu sein. Es ist auch nicht beabsichtigt. Es ist eine abstrakt anmutende, dennoch unter die Haut gehende höllische Klangflächen- und Geräuschpartitur, die ohne konventionelle Handlungsdramaturgie das Auslangen findet. Originalbriefe von Soldaten in deutscher, flämischer und englischer Sprache wurden auf die Bühnenwand projiziert und von den Schauspielern vorgetragen, was zu den berührendsten Sequenzen des Abends gehörte. Aus der „Kurzeinführung“ im Programmheft sei zitiert: „Entstanden ist ein … interdisziplinäres Werk für sechs Sängerinnen und Sänger, sechs Schauspieler Orchester und Elektronik. Die komplexe Klangwelt schafft eine dichte und düstere Atmosphäre, die Erinnerungen an surrealistische Horrorfilme wachruft …“
Zwölf Menschen, 6 davon Sänger/innen, sind permanent auf der Bühne. Librettist und Regisseur Luk Perceval verlangt ihnen extremes Bewegungstheater ab. Sie bewegen sich zumeist im Zeitlupentempo, sind auch durch das ständige Changieren zwischen Singen, Sprechen, Flüstern, geräuschintensivem Atmen, extrem gefordert.
Die Klangflächen kommen teilweise vom Orchester (hier hat man zeitweise das Gefühl, es bestehe nur aus überbordendem Schlagzeug) und vom Band. Bedrohlicher, synthetischer Raumklang „bedrängt“ das Auditorium von allen Seiten. Czernowin verlangt dem Publikum das Äußerste ab. Musik geht an emotionale Schmerzgrenzen, ermüdet aber auch durch immergleiches Wiederholen einmal gefundener Stilmittel. Sturm, prasselnder Regen, donnernde „Bombengeschwader“, unendlich lang angehaltene Einzeltöne, eruptive Klänge, dumpfe Schläge von Metall auf Metall (als Einleitung bei fast jedem der insgesamt 6 Akte). Heftiges Atmen, unterdrücktes Atmen, Keuchen, Glissando-Schleiftöne, um psychische Ausnahmesituation, Panik und traumatische Gefühle auszudrücken. Groß dimensionierte Generalpausen irritierten mitunter. Da konnte ich schon nachvollziehen, dass manche im Publikum dies als ohrenfolternd und nervenzerfetzend empfanden und schon während des 2. bzw. 3. Aktes hinaus gingen.
Alle, die blieben, schienen sich aber sehr intensiv auf diese surrealistische Horror-Film-Atmosphäre eingelassen zu haben. Ab dem 4. Akt („Die Soldaten wünschen sich in ihren Gedanken nach Hause. Der Feind ist nun in Sichtweite…“) ging das musikalische Geschehen mehr und mehr in eine verfestigte Klanglichkeit über. Jetzt erst durften auch die Sänger/innen für Momente kantilenenhaft hervortreten. Vor allem die Altistin Noa Frenkel, die Sopranistin Karen Vourc‘h und der Countertenor Terry Wey nützten diese späte Chance weidlich.
„Der Tod ist überall, aber das Leben sucht weiterhin seinen Weg“, so der Schluss-Satz der Inhaltsangabe im Programmheft …
Respekt und Bewunderung für das gesamte Ensemble. Eine Meisterleistung an Konzentration, Körperbeherrschung (offensichtlich bestens gecoacht von Ted Stoffer, dem Bewegungstrainer), Deutlichkeit der Sprache (Dramaturgie: Luc Joosten) und Aufrechterhaltung der unheimlichen Atmosphäre. Die Sprechrollen: Rainer Süßmilch (Paul Bäumer), Benjamin-Lew Klon (Katczinsky), Didier de Neck Leutnant), Gilles Wellinski (Oberst), Roy Aernouts (Soldat Seghers) und Oana Salomon (Schwester Elisabeth) und die Sangesrollen: neben den schon oben Genannten noch Ludovica Bello (Mezzosopran), Vinzenco Neri (Bariton) und David Salsbery Fry (der abgründig tiefe Bass).
Dirigent Titus Engel behielt in bewundernswerter Weise die Übersicht über das komplette komplizierte Klanggeschehen zwischen elektronisch vorproduzierter Musik (IRCAM-Computermusik: Carlo Laurenzi, Forschungsinstitut für Akustik & Musik) und den Laut- und Tonäußerungen im Orchestergraben.
Monumental, schier erdrückend die Bühnenbildsäulen des Philip Bußmann. Eindringlich die Lichtregie des Mark van Denesse, adäquat die Kostüme von Ilse Vandenbussche.
Nach zweieinhalb pausenlosen Stunden spendete das ziemlich „geschaffte“ Publikum anfangs verhaltenen Beifall, der sich aber beim Erscheinen der Komponistin und des Leadingteams zum „Gesamtvorhang“ deutlich steigerte und in etlichen Bravorufen kulminierte …
… Und ich lese bei nächster Gelegenheit Erich Maria Remarques Antikriegsroman!
Karl Masek
OnlineMerker
P.S.: Die Uraufführung (auch Mannheim nimmt das Uraufführungsrecht in Anspruch) fand schon am 18.4. in der Vlaanderen Opera in Gent in selber Besetzung statt.