Premiere als Stream: „Die Jungfrau von Orleans“ von Friedrich Schiller am 17.6.2021 am Nationaltheater/MANNHEIM
Eine ungewöhnliche Perspektive
Bei dieser Aufführung spielt die weibliche Sicht auf Schillers Text eine große Rolle. In der Inszenierung der polnischen Regisseurin Ewelina Marciniak (Choreographie: Dominika Knapik; Bühne und Licht: Mirek Kaczmarek; Kostüme: Natalia Mleczak) wird das Original von Friedrich Schiller immer wieder stark verändert. Die Schauspieler treten auch als solche auf und erklären ihre Rollen: „Schiller hat das Ende meiner Geschichte geändert.“ Sie ist aber auch hier Gotteskriegerin, Bauernmädchen und Rebellin. Die historische Jeanne d’Arc wurde erst zur Heerführerin ernannt, dann als Hexe verbrannt und schließlich zur Heiligen verklärt. Die Regisseurin fragt auch hier, wer diese junge Frau war, der es gelang. einem autoritären System die Stirn zu bieten. In seiner romantischen Tragödie zeigt Friedrich Schiller seine Jungfrau von Orleans als Zerrissene zwischen ihrer Mission und ihren eigenen Gefühlen. Man spürt als Zuschauer, dass solche Heldinnen nicht lieben dürfen. Schiller lässt seine Johanna ja auch auf dem Schlachtfeld sterben.
Seine Version des Mythos nimmt die junge polnische Regisseurin Ewelina Marciniak zum Anlass, über heldische und einflussreiche Frauen nachzudenken. Wer sind denn die Johannas der Gegenwart? Dieser Frage wird hier intensiv nachgegangen. Sie hält sich aber auch eher an die historischen Tatsachen, denn im Foyer des Nationaltheaters wird Johanna schließlich tatsächlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es ist eine ungewöhnliche, andere Perspektive, weil dabei viel Text weggelassen und einiges hinzugedichtet wird. Über Sinn oder Unsinn einer solchen Bearbeitung lässt sich sicherlich streiten. Interessant ist die Rolle von Johannas Vater, die grell herausgearbeitet wird. Er muss zuletzt die eigene Tochter beschuldigen und auf den Scheiterhaufen bringen. Trotz mancher Schwächen gelingt es der klugen Regisseurin Ewelina Marciniak, die Rolle der Jeanne d’Arc neu zu definieren. Übersinnliche Mächte und Vorstellungen haben bei dieser Inszenierung durchaus Gewicht. So werden die Protagonisten oftmals in Nebel eingehüllt, die Handlung wird auf eine metaphysische Ebene gehoben, auch wenn das Bühnenbild eher ein modernes Ambiente beschreibt. Johannas Berufung, die rätselhafte Herkunft des Helms, der schwarze Ritter, die Donnerschläge bei der Krönungsszene, ihre Befreiung aus dem Kerker und die Vision der Mutter Gottes im Tode verschwinden als szenische Ereignisse eher in der Dunkelheit oder werden nur schemenhaft angedeutet. Präzis herausgearbeitet wird dagegen Johannes Beziehung zu Talbot, dem Feldherrn der Engländer: Ihre göttliche Berufung lässt den Kriegsgegner scheitern. Annemarie Brüntjen als Johanna und Matthias Breitenbach als Talbot und Schwarzer Ritter werden ihren Rollen hier sehr gut gerecht. Es gelingt ihnen, den seelischen Konflikt plausibel werden zu lassen. Vassilissa Reznikoff als Agnes Sorel und Geliebte König Karls VII. von Frankreich zeigt dabei ebenfalls ein ausgefeiltes Charakterporträt zwischen Unsicherheit und fast mädchenhaften Allüren. Sie fühlt sich Johanna nicht gewachsen. Als „rasende Megäre“ vermisst man bei der Aufführung allerdings Königin Isabeau als Mutter des Königs. Das Auf und Ab der Schlachtenszenen und die farbige Zeichnung der Umgebung gehen als szenische Ereignisse eher unter oder bleiben ganz im Dunkeln. Dass ein großer Geist Johanna aber „Weltgeschicke“ aufzeigt, wird nicht geleugnet.
In weiteren Rollen überzeugen weitgehend Boris Koneczny als Thibaut d’Arc, Maria Munkert als undurchsichtiger Graf Dunois, Arash Nayebbandi als La Hire, Bertrand, Margot, Laszlo Branko Breiding als Lionel/Louison sowie Ragna Pitoll als Raimunde/Montgomery. Die Choreographie von Dominika Knapik legt auf die Tanzszenen und rhythmischen Bewegungen großen Wert. Die Rollen der Schauspielerinnen und Schauspieler werden ganz bewusst immer wieder hinterfragt: „Wer bist du eigentlich? Hast du das gelernt auf der Schauspielbühne?“ Johanna möchte diese Fragen aber nicht beantworten. Man erwähnt Voltaire oder den Front National, der sich Jeanne d’Arc als große Kultfigur auf die Fahnen geschrieben hat. Interessant ist bei dieser ungewöhnlichen Version vor allem, dass Johanna doch irgendwie weiterlebt. Dies wird vor allem im intensiven Schluss-Dialog mit Raimunde (facettenreich: Ragna Pitoll) deutlich, die als alte Frau mit ihrer jungen Freundin über den Sinn des Lebens philosophiert.
Jeanne d’Arc ist bei dieser Inszenierung vor allem eine zeitlose Figur, vielleicht sogar eine Protagonistin des Feminismus. Es ist ein interessanter Auftakt der diesjährigen Mannheimer Schillertage, dessen Etat sogar noch erhöht wurde.
Alexander Walther