MANNHEIM/ Nationaltheater: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER. Premiere am 24.4. 2022
Vom Ende her erzählt
Daniela Köhler (Senta) . Copyright: Nationaltheater Mannheim/Christian Kleiner
In der subtilen Inszenierung von Roger Vontobel (Mitarbeit Regie: Maren Schäfer; Bühne: Fabian Wendling; Kostüme: Ellen Hofmann) wird die Geschichte vom Ende her erzählt – von einer jungen Frau namens Senta, die sich für den fliegenden Holländer opfert. Denn es lastet ein Fluch auf ihm: Bis in alle Ewigkeit muss er die Weltmeere durchsegeln. Und nur alle sieben Jahre darf er an Land, um eine Frau zu suchen, die ihn von seinem Schicksal erlöst. In der ebenfalls gegen die bürgerliche Welt rebellierenden Senta findet er endlich jene Frau, nach der er suchte. Sie ist ihm treu bis in den Tod.
In der Inszenierung von Vontobel kommt es zu einer teilweise sphärenhaften Lösung, denn nachdem sich der Holländer enttarnt hat, entschwindet das riesige Stahlschiff in der Höhe. Und Senta folgt ihm in Gestalt einer Tänzerin, die an Seilen in die Höhe gezogen wird. Dies ist eine tröstlichere Version als die andere Variante, wo Senta sich schließlich erhängt. Hier zeigt sich eine Schwäche in der Inszenierung, denn die himmlische Erlösung wird ja durch den Selbstmord eigentlich wieder in Frage gestellt. Aber eine gewisse Doppelbödigkeit ist charakteristisch für Roger Vontobels Konzept, bei dem es um die Sichtbarmachung der Wirklichkeit geht. In den Videosequenzen von Stefan Bischoff erreichen den Zuschauer suggestive Bilder, die die Geschichte Sentas auch psychologisch als spannendes Kapitel unbewusster Vorgänge deuten. So wird ihr Gesicht bis zur Großaufnahme des Auges beleuchtet. Der Verlust von Transzendenz spielt hier eine große Rolle. Die Spinnerei der Frauen zu Beginn des zweiten Aktes ist ein Arbeitslager mit gesponnenen Fäden mit der roheren Variante des Taus. Die raue Arbeitswelt der Männer auf See sowie die raue Arbeitswelt der Frauen in der Spinnerei werden als großes Bild zusammengefasst. Die Traum- und Wunschbilder Sentas nehmen fast monströse Ausmaße an. Hinzu kommt, dass Holländer und Senta jeweils eine Tänzerin und ein Tänzer zur Seite gestellt wird. Dies ist optisch ausgesprochen reizvoll, da die Beziehungen der Figuren dadurch in einen neuen Blickwinkel gestellt werden. Außerdem gewinnt das Bühnengeschehen so an Lebendigkeit. Im Grundbild wird der Gefängnisraum von 53 Seilwinden geformt. Eine erhöhte Plattform dient den Aufseherinnen als Überwachungsposten. Durch die Bewegung der Drehscheibe und vor allem durch das Eintauchen der Schiffe in die Seile wird die räumliche Situation bewegt und verformt. Das ist ein raffinierter Kunstgriff, der den Wert dieser Inszenierung bestimmt. Denn aus der Plattform wird ein Schiff und dann auch ein Anleger. Unterschiedliche Handlungsorte auf der Bühne offenbaren dabei auch eine ganz neue Sichtweise. Die Bühne besteht hier aus Flaschenzügen, deren Mechanik zwar schlicht, aber wirkungsvoll ist. Durch das sich herabsenkende Schiff kommt es schließlich zu gewaltigen Verformungen.
Die Kostümbildnerin Ellen Hofmann möchte bei ihrem Entwurf dem Schauermärchen Rechnung tragen. Die Mädchen sind für sie Zwangsarbeiterinnen im Hause Dalands. Die Kostüme sind im Stil der fünfziger Jahre entworfen. Und die Kostümidee für Daland ist von Leonardo Di Caprios Darstellung des Calvin Candie in „Django Unchained“ inspiriert. Auch die mythische Gestalt des Holländers sticht beim Kostümentwurf hervor. Die Choreografin Zenta Haerter betont, dass sie vom Klassischen Tanz und vom Modern Dance geprägt sei. Entsprechend agieren auch ihre Tänzer. Traum, Sehnsucht, Schönheit und Leichtigkeit gehen so eine eindringliche Verbindung ein. Stefan Bischoff hat mit dem Video eine Einflugschneise in die Oper eingebaut. So verbinden sich Traum und Alptraum im Kopf von Senta, es entstehen starke Bilderwelten.
Musikalisch besticht die Aufführung trotz einiger kleinerer Schwächen durch ihre packende Schlagkraft und glühende Intensität, die der Dirigent Jordan de Souza immer wieder beschwört. Der geradezu magische Zauber der dramatischen Ballade wird durch die Sopranistin Daniela Köhler als Senta eindrucksvoll betont. Die kunstvolle Verzweigung der thematischen Motive gelingt hier mit einigen Abstrichen durchaus ansprechend. Das Holländermotiv mit den unheimlichen leeren Quinten verfehlt seine Wirkung nicht. Michael Kupfer-Radecky ist ein gesanglich wandlungsfähiger, markanter Holländer, der die Passage „Die Frist ist um“ zu einer bewegenden Demonstration eindringlicher Gesangsdeklamation macht. Das Orchester des Nationaltheaters Mannheim beweist unter der inspirierenden Leitung von Jordan de Souza auch beim Erlösungsmotiv mit seinem geheimnisvollen Übergang von g-Moll nach B-Dur spieltechnisches Geschick. Die motivische Verwandtschaft von Matrosenchor und dem Spinnlied der Mädchen arbeitet Jordan de Souza mit dem Orchester facettenreich heraus. Auch die dynamisch gewaltige Steigerung des Duetts von Senta und Holländer überzeugt hier aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und gesanglichen Leuchtkraft. Die weichen Töne der Hörner begleiten den Gesang des Holländers mit filigraner Reife, während bei Sentas Gesang die Oboe nuancenreich in Erscheinung tritt.
In weiteren Rollen überzeugen Sung Ha als Daland, Jonathan Stoughton als emotional aufgewühlter Holländer-Rivale Erik (der auch den sanftmelodischen Gesang beherrscht) sowie Marie-Belle Sandis als Sentas Amme Mary. Hinzu kommen noch die beiden hervorragenden Tänzer Delphina Parenti als Traum-Senta sowie Michael Bronczkowski als Traum-Holländer. Beim Entschwinden des Schiffes in der Höhe erklingt das Erlösungsmotiv nochmals in ergreifend-triumphierenden Klängen. Der von Dani Juris geleitete Chor bietet eine ausgezeichnete Leistung.
Jubel, großer Applaus für diese bemerkenswerte Inszenierung. Das überaus imposante Bühnenbild wurde übrigens vom Richard-Wagner-Verband Mannheim-Kurpfalz mitfinanziert.
Alexander Walther