Mainz: „WIE KLINGT HEIMAT?“ 2. Konzert für junge Leute – 25.1.2017
„Wie klingt Heimat?“ Dass über einem Konzert als Motto eine Frage steht, gibt es selten. In Mainz eröffnet GMD Hermann Bäumer damit tatsächlich das von ihm dirigierte und moderierte 2.Konzert für junge Leute des Philharmonischen Staatsorchesters. Auf dem Programm stehen drei sinfonische Dichtungen aus Bedřich Smetanas Zyklus„Ma Vlast“ („Mein Vaterland“): Vyšehrad, Táborund Vltava (Die Moldau). Das ist mutig, denn letztere ist ausgesprochen populär und wird im Musikunterricht, sofern er noch stattfindet, gerne strapaziert. „Tábor“ hingegen ist selbst erwachsenen Konzertbesuchern fremd. Und wie will man mit Mainzer Kindern, darunter sicher etliche mit Migrationshintergrund, ausgerechnet das Thema „Heimat“ problematisieren? – Bäumer selbst scheint das gar nicht so problematisch zu finden. Als Einstieg stellt er vier Fragen und bittet das aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gemischte Publikum um Handzeichen: „Wer ist in Deutschland geboren? Wer lebt derzeit in Mainz? Wer davon hat noch nie in einer anderen Stadt gelebt? Und wer davon ist in Mainz geboren?“ Sehr viel enger als heute habe man damals in Böhmen den Heimatbegriff verstanden, erklärt Bäumer. Er erzählt ziemlich viel: Von Smetana, über den Zyklus „Mein Vaterland“, über die Prager Festung Vyšehrad, von den Hussiten, ja sogar von Jan Hus, der – anders als gut 100 Jahre später der Reformator Martin Luther – nach kaiserlichem Wortbruch als Ketzer auf dem Konstanzer Konzil verbrannt wurde. Er tut es recht anschaulich und locker – und vor allem nicht an einem Stück. Zwischendurch gibt es Musik. Erst Ausschnitte aus „Vyšehrad“: Das Festungsthema in verschiedener Instrumentation. Die Bläser galten als besonders volkstümlich – vergleichbar den Blasmusikvereinen im Mainzer Umland. Da sind auch die beiden Harfen, die sich gegenseitig ergänzen und den Barden Lumir symbolisieren, da sind die Oboen mit tiefen, schalmeienartigen Klängen, und am Ende das auffallend wehmütige Horn-Pendel in die Sexte beim Schlussakkord. Dann spielt das Orchester den ganzen Satz – exakt, anschaulich und stimmungsvoll. Nur die dramatische Phase mit viel Chromatik mittendrin, die hätte der GMD noch erklären sollen.
Zu „Tábor“ führt das Orchester den von Smetana verwendeten Hussiten-Choral „Die ihr Gotteskämpfer seid“ vor. Aus ihm spaltet sich ein kämpferisches Angangsmotiv ab, das durchs Orchester wandert, als ob ein Krieger nach dem andern vorträte. Reiterfanfaren und Pferdegetrappel erklingen, und dann kämpfen sich die Hussiten mit dem Choral durch das Stück. Eigentümlich statisch wird der nachher klingen, als wir die Musik im Zusammenhang hören – so, als ob jemand stundenlang vergeblich an seinen Gitterstäben rüttelt. Dass sein Tod zu jahrelangen Kämpfen führe, habe auch Hus nicht gewollt, meint Bäumer; wie so oft sei friedlicher Protest umgeschlagen in Gewalt. „Ideen sind das eine, die Umsetzung ist schwieriger und gefährlicher.“ Aber man müsse sich auch in die am Anfang geschilderte lähmende Stimmung versetzen. Das klinge, als ob man bis zur Schulter auf den Boden heruntergedrückt würde. „Tábor“ ist ein düsteres, sprödes Stück, aber das junge Publikum hört auch hier aufmerksam zu.
Nach der Pause gibt es die freundlich gestimmte „Moldau“. Das Publikum darf das Eingangsthema nachsingen und bekommt, nach eher schwacher Leistung, für den zweiten Versuch vom Konzertmeister den Eingangston. Später singen wir dann auch die Dur-Version. Bei der „Bauernhochzeit“-Episode schnellten bei Konzerten in Schulen immer die Finger hoch, berichtet der GMD schmunzelnd. Aber woran man die Hochzeit denn erkenne? (Viel zu oft, dürfen wir an dieser Stelle vermuten, werden den Kinder Melodien eingetrichtert, ohne ihnen wirklich das Hören beizubringen.) Einer der jungen Zuhörer wirft schließlich „Tanz“ in den Raum, und das gibt Bäumer das Stichwort, um von der Polka zu erzählen, die im tschechischen eigentlich „Pulka“ („die Hälfte“ im Sinne von „Halb-Schritt“) hieß und dann aus Solidarität mit den in ihrer Heimat unterdrückten Polen in „Polka“ umbenannt wurde. Als das Orchester das „Vyšehrad“-Thema vorspielt, fragt der Dirigent:„Haben wir das heute schon einmal gehört?“Einige Mutige rufen „Nein“ – wahrscheinlich hätte man auch diese Stelle mehrfach singen lassen müssen. „Ich halte dagegen,“ sagt der GMD und verweist auf den Anfang. Aber auch diese kleine Fehlleistung bestätigt eigentlich seine Schlussthese: „Heimat“ als solche gebe es in der Musik selbst nicht, sondern nur über die Bezüge und Geschichten, die man mit dieser Musik verbindet. Darüber denken wir auch noch nach, als die ganze Moldau von der Quelle bis zur Stadt Prag sinfonisch an uns vorbeizieht …. Wozu man einen Bezug hat, das ist zumindest nicht mehr fremd. Ist es dann nicht überhaupt die musik- und konzertpädagogische Kernaufgabe, Bezüge herzustellen?
Andreas Hauff