Mainz: TELEMANN – KANTATEN – Musikhochschule 8.1.2017
Zu einem „Neujahrskonzert der anderen Art“ begrüßt Felix Koch, Professor für Alte Musik und Konzertpädagogik, die Hörer im Roten Saal der Musikhochschule an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität. Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Barock vokal, einem von Koch und seiner Kollegin Claudia Eder (Professorin für Gesang) geleiteten Weiterbildungsprogramm für Sängerinnen und Sänger zur Gesangsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, präsentieren zusammen mit der Neumeyer Consort-Akademie, einem ähnlich orientierten Förderprogramm für Instrumentalstudierende, sechs Kantaten von Georg Philipp Telemann. Der Todestag des 1681 geborenen Komponisten jährt sich am 25.6.2017 zum 250. Mal, so dass damit auch das Telemann-Jahr eingeleitet wird. In seiner Begrüßung weist Koch auf die hohe Bedeutung des produktiven und lange als Vielschreiber geschmähten Komponisten für die bürgerliche Musikpflege in Deutschland hin. Die Nachfrage nach seinen Werken war groß, und auch ihre Verbreitung. Eine dazu passende Überraschung im Vorfeld des Programms war, dass ein unter Georg Friedrich Händels Namen überliefertes Quartett D-Dur für Traversflöte, Violine und Violoncello und Basso Continuo nur eine Abschrift ist; im Internet fand sich das Original in Telemanns Handschrift.
Telemanns Kantaten zeigen seine deutliche Verwurzelung im deutschen Protestantismus. Das beweist nicht nur die hohe Zahl von Kirchenkantaten, von denen viele für einfachere Verhältnisse an kleinen Kirchen bestimmt waren und damit abseits der großen Stadtkirchen für musikalische Qualität sorgten. Es zeigt sich auch in der sprechenden Grundhaltung der Musik, die einen eindringlichen Textvortrag und die bewusste Anrede an die Hörer voraussetzt – also nach lutherischer Tradition in Tönen predigt. Die Programmauswahl fällt da naturgemäß schwer, aber Felix Koch und Claudia Eder haben eine geschickte Lösung gefunden. Sie kombinieren sechs Solokantaten unterschiedlichen Inhalts und unterschiedlicher Tonart, die jeweils aus der Folge Arie – Rezitativ – Arie bestehen. Jeder Kantate setzen sie als Vorspiel einen Satz aus einem Instrumentalwerk mit vergleichbarer Besetzung und passendem Affektgehalt voran. (Darunter auch einen Satz aus dem oben genannten Quartett.) Den Beginn macht die Kantate „Die Liebe“ (d-moll) aus der Reihe der (weltlichen) „Moralischen Kantaten“; dem Ablauf des Kirchenjahres entsprechend folgen aus der Sammlung „Der harmonische Gottesdienst“ die Kirchenkantaten „Ihr seligen Stunden erquickender Freuden“ (F-Dur), „Kein Vogel kann im Weiten Fliegen“ (C-Dur), „Deine Toten werden leben“ (e-moll), „Die Ehre des herrlichen Schöpfers zu melden“ (D-Dur) und zuletzt die Pfingstkantate „Zischet nur, stechet, ihr feurigen Zungen“ (G-Dur).
Barbara Mauch-Heinke vom Neumayer-Consort hat den Violinpart übernommen, Felix Koch selbst spielt das Violoncello als Solo- und Continuo-Instrument, und Markus Stein wechselt zwischen Orgel und Cembalo als Akkordinstrumenten. Neben der erfahrenen Kern-Besetzung beeindrucken als Stipendiaten Johannes Herres an der Blockflöte und Sophie Roth an der Traversflöte. Telemann verwendet sowohl das ältere als auch das jüngere Blasinstrument, bisweilen sogar beide gleichzeitig. Es ist erstaunlich, wie gut die klarere, härtere Klangfarbe der Blockflöte mit der hauchigeren und weicheren des Schwesterinstruments harmoniert. Die Gesangspartien sollten ursprünglich unter acht Teilnehmer aufgeteilt werden; als Folge der grassierenden Erkältungswelle bleiben am fünften Tag zum Konzert noch fünf davon übrig. Damit entfällt das ursprüngliche Konzept, jede Kantate unter drei Sänger aufzuteilen, und der Altist Jeff Mack hat als vermutlicher routiniertester Sänger den höchsten Programmanteil. Er meistert – nach anfänglicher Nervosität – die Aufgabe souverän und gefällt mit einer klaren, ausdrucksvollen und auch in der Höhe noch durchschlagskräftigen Stimme, dazu deutlicher Artikulation und starker Bühnenpräsenz. Imponierend ist, mit welcher Kraft, Präzision und Eleganz die Sopranistin Christina Thaler zum Einstieg gleich die furiose Eingangsarie der Liebes-Kantate bewältigt. Auch Anneke Harger (Sopran), Igor Palmov (Altus) und Miyeon Baek (Sopran) hinterlassen einen guten Eindruck, wobei letztere bisweilen noch mit einem zu starken Vibrato zu kämpfen hat.
Was allen gut gelingt, sind die vertrackte Telemannsche Mischung von kleinteiliger Phrasierung und großem Bogen, die feinfühlige Interaktion mit den mal begleitenden, mal umspielenden Instrumentalisten und die dem Publikum zugewandte, sprechende Grundhaltung. Witzig ist der gesungene Echoeffekt im letzten Satz der vorletzten Kantate; dreimal antwortete ein Einzelton aus dem Hintergrund der vorne stehende Solistin. Gelungen ist auch die Zugabe: Telemanns dreistimmiger Kanon „Ich will den Herrn loben allezeit“ – schwungvoll gesungen mit gezupftem Cellobass und folkloristischem Einschlag – fern aller Kirchenchor-Behäbigkeit. Als gravierenden Mangel allerdings empfinde ich den Nichtabdruck der Kantaten-Texte auf dem Programmzettel. Aus dem gottesdienstlichen Zusammenhang genommen, fehlt ihnen der biblische Kontext, und ihr deutender Gehalt bleibt undeutlich, selbst wenn die mitwirkenden Sänger gut artikulieren. Kosten und Aufwand sollte man hier nicht scheuen, auch wenn die Musikhochschule zu dem Abenden im eigenen Haus keinen Eintritt verlangt. Das gebietet einfach die Rücksicht aufs Publikum. Denn inzwischen hat sich der Bau auf dem Universitätscampus zu einer wichtigen Spielstätte im Mainzer Konzertleben entwickelt; er wird auch in Zukunft noch interessanter werden, denn die neu errichtete Straßenbahnlinie („Mainzelbahn“) zum Lerchenberg hält seit Dezember fast vorm Haus und ermöglicht einen barrierefreien Zugang.
Andreas Hauff