Mainz: Ziemlich britisch: Das 7. Sinfoniekonzert 20.5.2023
Kein Sinfoniekonzert ist wie das andere. Wann erlebt man schon einmal, dass der Solist des Abends vor der Zugabe zu einer kleinen Ansprache ausholt? Naoya Nishimura, 1. Konzertmeister des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz, spielte den Violinpart in Max Bruchs „Schottischer Fantasie“ für Violine und Orchester op. 46 aus dem Jahr 1883. Den intensiven Beifall im Großen Haus des Staatstheaters quittierte er mit einem Dank an seine Kolleginnen und Kollegen im Orchester. Sinngemäß sagte der aus dem japanischen Osaka stammende Musiker, es sei für ihn eine großartige Erfahrung, von der Musik umgeben zu sein, hörend in den Gesamtklang einzutauchen und nicht nur als einer von vielen Mitspielen im Ensemble zu sitzen. Ihm komme das Staatsorchester dabei vor wie ein organisch gewachsener Wald, in dem es viel zu entdecken gebe. Und das Publikum sei wie die Sonne, die diesen Wald blühen, wachsen und gedeihen lasse. Deswegen: „Kommen Sie wieder!“ (Auch ihm, hatte ich den Eindruck, sitzt wie vielen Musizierenden die Corona-Zwangspause noch im Nacken.) Einer der bemerkenswerten Bäume in diesem „Wald“ des Philharmonischen Staatsorchesters, fuhr Nishimura fort, sei sein Kollege Victor Bustamente – der sei nicht nur 2. Geiger im Orchester, sondern nebenbei auch ein kompetenter Tonmeister und ein großartiger Arrangeur. Und deswegen werde er jetzt zusammen mit zwei Orchesterkollegen ein Tango-Arrangement für Streichtrio von Bustamente als Zugabe spielen. In Anspielung auf das Konzertprogramm des Abends sagte er, diese Zugabe sei zwar nicht „very British“, aber immerhin werde sie „von drei echten Gentlemen“ vorgetragen.
Das Publikum feierte allem Anschein nach Nishimura nicht nur für seine technische Leistung beim höchst anspruchsvollen Solopart, sondern auch für seine sympathische Art, der jedes Auftrumpfen fremd ist und die so großen Wert auf Kollegialität legt. Es ist für das Stammpublikum eine schöne Erfahrung, wenn hinter der „Masse“ von Instrumenten auf der Bühne einzelne Künstlerpersönlichkeiten sichtbar werden, und es tut auch dem Betriebsklima im Orchester gut. Gleichzeitig erklärt sich durch die geschilderte Szene aber auch das, was der Interpretation der „Schottischen Fantasie“ nach meinem Dafürhalten fehlte: Das Auftrumpfen des Solisten, das Improvisatorische, das augenzwinkernde Spiel mit den Erwartungen des Publikums, das eigentlich zu einer instrumentalen Fantasie gehört – schon gar, wenn sie so stark Folklore zitiert und mit den Effekten von Folklore spielt. Was Nishimura und die junge Gastdirigentin Anna Rakitina ablieferten, war technisch in Ordnung, präzise, sauber durchgearbeitet, aber eben auch … brav. Vor etwa 10 Jahren habe ich die „Schottische Fantasie“ schon einmal im Mainzer Sinfoniekonzert gehört – unter GMD Hermann Bäumer und mit Antje Weithaas als Solistin. Da wirkte das Stück wesentlich pointierter, freier und die Geigerin, wenn man so will, rücksichtsloser in der Selbstdarstellung. Persönlichkeit, Erfahrung und Stellung im Ensemble machen eben doch etwas aus; kein Sinfoniekonzert ist wie das andere.
Insgesamt war das Programm in der Tat „very British“. Am Anfang stand eine absolute Rarität, die aber nicht von ungefähr die Atmosphäre britischer Staatsakte heraufbeschwor: „Proud Thames“ ist ein kurzes Orchesterstück, das den Weg der Themse von der Quelle bis nach London beschreibt und zur Krönung Königin Elizabeths II. im Jahr 1952 entstand – und dafür im Folgejahr preisgekrönt wurde. Es stammt von der vielseitigen englischen Komponistin Elizabeth Maconchy (1907-1994), die als Frau durchaus mit männlicher Missachtung und familiärer Doppelbelastung zu kämpfen hatte, aber dann doch allmählich Anerkennung fand – beginnend mit ihrer Wahl zur Vorsitzenden der Composers’ Guild of Britain im Jahr 1959. „Proud Thames“ ist von einer impressionistischen Grundstimmung getragen, erinnert aber mit charakteristischen Bläserpartien an Bedřich Smetanas „Moldau“ und Richard Wagners „Rheingold“; auch die vorne in der Mitte platzierte Harfe spielt eine große Rolle. Das recht kurze Stück erfüllt seine poetisch-repräsentative Funktion perfekt: Man wartet danach geradezu auf eine staatstragende Ansprache oder ein repräsentatives Ritual. Dass stattdessen Bruchs „Schottische Fantasie“ kam, könnte man fast als ironisches Arrangement verstehen, hätte dann aber gerne ein wenig mehr von schottischer Eigenheit und Eigenwilligkeit herausgehört.
Interessant wäre es natürlich, im Konzert oder auf der Opernbühne einmal einem größeren Werk von Elizabeth Maconchy zu begegnen. Unter dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit ist auch die Einladung an die junge aufstrebende Gastdirigentin Anna Rakitina eine wichtige Geste. Sie ist seit 2019 Assistant Conductor des Boston Symphony Orchestra unter Musikdirektor Andris Nelsons und konnte in dieser Position schon wichtige Erfahrungen sammeln. Sympathisch ist, wie stark sie sich um solide Arbeit bemüht. Sie kommt nur kurz zum Vorgespräch vor Konzertbeginn, weil sie noch einmal Konzentration sammeln möchte. Ihr Dirigat ist sicher und konzentriert, und es wirkt beachtlich, wie stark sie als zierliche Person das vielköpfige Orchester im Griff hat. Aber bis der Funke so richtig überspringt, dauert es dann doch eine Weile. Edward Elgars berühmte „Enigma-Variationen“ nach der Konzertpause geht sie erst einmal vorsichtig an. Nach dem ersten Drittel kommt die Musik ins Fließen, Rakitina wird freier in ihren Dirigierbewegungen, und auch das Orchester spielt sich frei und lässt in ausschwingenden Melodien und ausgefeilten Übergängen die Musik aufblühen. Das bewegt einen als Hörer, und man wird sich auch bewusst, mit wieviel Wärme und wieviel Humor Elgar in diesen originellen Variationen die Menschen seiner Umgebung charakterisiert hat. Man bedenkt vielleicht auch, wie wichtig es überhaupt für Menschen ist, dass sie als Person wahrgenommen werden. Insofern harmoniert Naoya Nishimuras ungewöhnliche Ansprache vor der Pause prächtig mit diesem gefeierten Konzertschluss.
Andreas Hauff