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MAINZ/Staatstheater: SINFONIEKONZERT Nr. 5 mir russischen Raritäten . Philharmonisches Staatsorchester; Hermann Bäumer; Anna Vinnitskaya

27.03.2023 | Konzert/Liederabende

Mainz: „Sinfoniekonzert Nr. 5“ (Russische Raritäten)25.3.2023

 Ungewöhnlich gut besucht ist dieses 5. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz im Staatstheater. Wo sonst am Samstagabend die eine oder andere Lücke im Parkett des Großen Hauses klafft, ist nahezu jeder Platz besetzt. Und beim Nachgespräch mit GMD Hermann Bäumer in der angrenzenden Kakadu-Bar ist von vielen jungen Leuten im 2. Rang zu hören. Aber was treibt so viele Menschen in ein Programm, bei dem mit Sergej Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 g-moll op. 40 und Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11 g-moll op. 103 „Das Jahr 1905“ zwei selten gespielte Raritäten auf dem Programm stehen?

Dass das Mainzer Stammpublikum offen ist für Neues und wenig Bekanntes, ist Resultat einer langen Aufbauarbeit, die 2001 mit Catherine Rückwardt begann. Ihre Vorgänger hätten das gängige Repertoire abgespielt, erklärte die damalige Generalmusikdirektorin mir 2011 im Interview anlässlich ihres Abschieds aus Mainz; da habe sie erst aus der Not eine Tugend gemacht, und dann sei mit der Erfahrung des Neuen auch die Neugier gewachsen. Rückwardts Nachfolger Bäumer konnte hier anknüpfen und vertiefen – nicht nur mit der kontinuierlichen Erweiterung des Repertoires und der Etablierung spezieller Sonderkonzerte, sondern auch mit der regelmäßigen Konzerteinführung eine Stunde vor Beginn der Abonnementskonzerte und – an diesem Abend erstmals – mit dem Angebot eines zusätzlichen Nachgesprächs. Es sei Leitlinie bei der Konzertplanung, frühestens nach zehn Jahren ein Werk wieder aufs Programm zu setzen, berichtet der GMD diesmal in der Einführung. Ausschlaggebend für die spezielle Werkauswahl sei der beiderseitige Wunsch gewesen, die Zusammenarbeit mit der russischen, in Hamburg lebenden Pianistin Anna Vinnitskaya fortzusetzen; und sie habe sich erstmals Rachmaninows 4. Klavierkonzert erarbeiten wollen.

Und so dürfen wir wohl annehmen, dass über das Stammpublikum hinaus einige pianistisch Interessierte den Weg ins Staatstheater gefunden haben, insbesondere Fans von Anna Vinnitskaya, Rachmaninow-Begeisterte und Freunde der russischen Klaviermusik im allgemeinen. Vielleicht geht es einem Teil des Publikums aber auch um die Begegnung mit russischer Musik überhaupt. Immerhin kombiniert das Programm ja ein Werk des 1917 aus Russland geflohenen Exilanten Rachmaninow mit einem Werk des im Lande gebliebenen und stets unter politischem Druck stehenden Schostakowitsch. Dessen 11. Sinfonie aus dem Jahr 1957 ist sogar ein dezidiert politisches Werk. Angesichts der zahlreichen Zitaten aus russischen Arbeiterliedern konnte man es bei der Uraufführung 1957 gemäß der Parteilinie verstehen; demnach hatte die Oktoberrevolution 1917 die bürgerlichen Revolution von 1905 erst wirklich zur Vollendung gebracht. Man konnte und kann aber auch anders herum denken und fragen, was die Oktoberrevolution und das anschließende Sowjetregime von den demokratischen Hoffnungen des Jahres 1905 denn eigentlich übrig ließen. Immerhin hatte die Sowjetunion 1956 gerade erst den ungarischen Aufstand niedergeschlagen. Vielleicht liegt die Stärke dieser Sinfonie tatsächlich in der Ambivalenz, die beide Lesarten zulässt, und in den gemischten Gefühlen, die sie aufnimmt und hervorruft. Und womöglich findet der eine und andere Hörer darin auch seine ambivalenten Gefühle angesichts des Ukraine-Kriegs wieder. Zur Frage, ob man angesichts dieses Krieges russische Musik überhaupt aufführen solle, beruft sich GMD Bäumer in der Einführung auf das Bedürfnis des Publikums nach dieser Musik und berichtet von einem Moskauer Gastspiel der Berliner Philharmoniker, denen er damals als Posaunist angehörte, im Jahr 1999: Trotz der Möglichkeiten eines kostenfreien Probenbesuchs drängten sich vor dem Konzert etwa 100 Menschen am Bühneneingang, um noch irgendwie Einlass zu finden, und während der Portier ihm und seinem sperrigen Instrument die eine Hälfte der Schwingtür öffnete, strömten die Musikhungrigen unaufhaltbar durch deren andere Hälfte.

Manch ein Hörer mag sich nun nach einem wärmenden Klangbad gesehnt haben, aber Rachmaninows 4. Klavierkonzert aus dem Jahr 1927 ist dazu wahrlich nicht angetan. Es ist zwar erwartbar volltönend und im Klavierpart vollgriffig, so dass die Solistin quer über die Tastatur „alle Hände voll zu tun hat“, aber von ungewöhnlicher Unruhe, unerwarteter Kontrastfülle und beachtlicher Dramatik. Die Themen erscheinen wenig griffig; selbst im langsamen Satz entfaltet sich kein längerer Entwicklungsbogen. Ein wenig zugespitzt, wirkt das Konzert, als wolle eine Bigband das Podium und die Gattung kapern. Unerwartete Synkopierungen, metrische Verschiebungen, jazzartige Bläser-Einwürfe und Schlagzeug-Einsätze mischen sich ins traditionelle spätromantische Klangbild. Tatsächlich machte sich Rachmaninow seinerzeit in New York am Klavier mit Jazzmusik vertraut und zeigte großes Interesse an den Bands von Paul Whiteman, Fletcher Henderson und Duke Ellington und den Kompositionen von George Gershwin. In einer unsicheren oder unentschiedenen Interpretation würde das Klavierkonzert nun vielleicht in heterogene Bestandteile auseinanderfallen, doch so energiegeladen und perfekt ineinandergreifend wie Anna Vinnatskaya und das Philharmonische Staatsorchester musizieren, erscheint es, als wolle der Komponist das Publikum ins Ringen um die Zukunft seiner Musik (und vielleicht der Musik überhaupt) mit hineinnehmen. Sich zurücklehnen kann man erst bei den beiden Zugaben, einem Prélude von Rachmaninoff und einem Walzer von Chopin. Leider sagt die Pianistin die Titel nicht an, und beim Nachgespräch entschuldigt sie der GMD wegen gesundheitlicher Probleme. Letztere waren –  Kompliment! – ihr beim  Spielen nicht anzumerken.

Geradezu asketisch wirkt dagegen das Klangbild des ersten Satzes von Schostakowitschs Sinfonie. Fahle, leise Streicherklänge, eng geführte langsame Melodielinien, selten nur unterbrochen von einer kurzen Trompetenfanfare mit kleiner Trommel markieren die unheilschwangere Stimmung des  Eingangs-Adagios „Der Platz vor dem Palast“. Der 2. Satz, „Der 9. Januar“, beschreibt die eindrücklich die sich zuspitzende Konfrontation der Aufständischen mit dem brutal durchgreifenden Militär, der 3. Satz „In memoriam“ ist der Trauer über die Toten gewidmet, wohingegen der 4. Satz, „Sturmgeläut“, in gewaltigem Anlauf erneute Unruhen und Erhebungen heraufbeschwört. Geradezu unheimlich wirkt am Ende das Weiterklingen der Glocken nach dem Schlussakkord; Hermann Bäumer wird im Nachgespräch später auf Nachfrage berichten, wie er diesen Effekt zusammen mit der Schlagzeugerin gründlich austariert hat. Ausgiebig zitiert Schostakowitsch  Lieder der Arbeiterbewegung; das Programmheft nennt neun Titel, von denen ich einen einzigen erkenne: In der deutschen Nachdichtung von Hermann Scherchen heißt das Lied „Brüder zu Sonne zur Freiheit. “ So wie die Lieder eingesetzt sind, wirken sie nicht wie offensichtliche Agitation und Propaganda, sondern wie reflektierte, sentimentalische Erinnerung aus der Distanz. Das ähnelt manchmal dem Umgang Gustav Mahlers mit folkloristischen Elementen: Einem Lied wird eine lange, grüblerische Gegenstimme beigegeben, das andere schwankt plötzlich zwischen Dur und Moll, das dritte geht unter in einem katastrophischen Aufschrei des Orchesters. Es findet sich auch eine eigenartige Korrespondenz zu Rachmaninows Konzert: Beide Werke beinhalten ein ausdrucksvoll klagendes Englisch-Horn-Solo. Finden wir hier einen „gemeinsamen Nenner“ von Trauer? Mit ausgedehntem Schlussapplaus löst sich zumindest ein Teil der über 60 Minuten unaufhaltsam aufgebauten Spannung. GMD Bäumer gibt seine Blumen weiter an die Englischhorn-Spielerin. Beim Hinausgehen vernimmt man in der Hörerschaft angeregte, im Einzelfall erregte Gespräche. Auch beim Nachgespräch im überschaubaren Kreis spürt man: Der Abend hat einen Nerv getroffen.

Andreas Hauff

 

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