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MAINZ/ Staatstheater: Mainz: Sinfoniekonzert Nr. 9 („Russische Zwischentöne“; Prokofjew und Khatchaturian)

17.07.2023 | Konzert/Liederabende

Mainz: Sinfoniekonzert Nr. 9 („Russische Zwischentöne“; Prokofjew und Khatchaturian) 14.7. 2023

 Nach dem 5. Sinfoniekonzert (mit Sergej Rachmaninows 3. Klavierkonzert und Dmitri Schostakowitschs 11. Sinfonie unter GMD Hermann Bäumer) präsentiert das Philharmonische Staatsorchester Mainz im 9. Sinfoniekonzert nochmals ein „russisches“ Programm, diesmal unter dem Gastdirigenten Dmitri Jurowski. Das ist bemerkenswert, denn noch im Oktober 2021 hatte sein Vater Michail Jurowski ein Konzert mit Sofia Gubaidulinas „Märchenpoem“, Áram Khatcharians Violinkonzert und Schostakowitschs 10. Sinfonie dirigiert. Als Michail Jurowski dann am 19.3.2022 verstorben war, würdigte ihn der Mainzer Orchestervorstand in einem kurzen Nachruf als „große Musikerpersönlichkeit“ und erinnerte sich an das Konzert: „Alle drei Komponist:innen kannte er persönlich und er konnte uns durch Geschichten, Anekdoten und Begegnungen diese Werke auf wunderbare Weise ganz nahe bringen. Trotz seines Gesundheitszustandes war er mit Leib und Seele bei der musikalischen Arbeit und hatte sich fest vorgenommen, wieder nach Mainz zu kommen. Wir danken ihm für gemeinsame und wunderbare Konzerte, nehmen Abschied und sind in Gedanken bei seiner Familie.“ Meinen Bericht habe ich damals mit dem Untertitel „Im Zeichen der Gewalt“ versehen; denn alle drei Werke entstanden in einem Umfeld aus politischer Bevormundung und Unterdrückung der Künste.

Ähnliches lässt sich zu diesem Abend sagen, bei dem die „Sinfonia concertante“ für Violoncello und Orchester op. 125 von Sergej Prokofjew aus dem Jahr 1952 und eine von Dmitri Jurowski aktuell selbst arrangierte  Suite aus Áram Khatchaturians Ballettmusik „Spartacus“ aus dem Jahr 1956 auf dem Programm stehen. Anders als sein älterer Bruder Wladimir Jurowski, der seit 2021 als GMD an der Bayerischen Staatsoper in München amtiert, hat sich Dmitri meines Wissens nicht explizit gegen das Putin-Regime positioniert: Er macht sich aber sehr wohl seine Gedanken: „Wir müssen irgendwie beweisen, dass die Kunst, dass die Musik, die Kraft hat, zu überleben und die Menschen ein wenig wieder zusammenzubringen; das ist tatsächlich das Einzige, was man in dieser wirklich schwierigen Lage tun kann,“ sagte er am 1.7.2022 der kanadischen Journalistin Catherine Kustanczy und berief sich dabei auf Schostakowitsch, dem die Familie Jurowski eng verbunden war. Er habe das Gefühl, wir seien in einer ähnlichen Situation wie damals in den 1920er und 1930er Jahren. (Nachzulesen unter: https://www.theoperaqueen.com/2022/07/01/dmitri-jurowski )

Prokofjews Sinfonia concertante“ hat eine verzwickte Entstehungsgeschichte. Grundlage bildete das Violoncellokonzert e-Moll op. 58, dessen Moskauer Uraufführung 1938 der Cellist Lew Beresowski bestritt; sie war ein offensichtlicher Misserfolg, und auch der Komponist selbst war mit dem Werk nicht zufrieden. Eine erste Überarbeitung regte der mit Prokofjew befreundete Komponist Nikolai Mjaskowski an (der zugleich Lehrer Khatchaturians war), eine zweite der Cellist Mstislaw Rostropowitsch. Letzteren müsste man eigentlich als Ko-Autor nennen, denn Rostropowitsch und Prokofjew machten sich in den Sommermonaten der Jahre 1950 und 1951 gemeinsam ans Werk. Vorhersehbares Ergebnis war die stärkere Profilierung des Cello-Parts ins Virtuose; gleichzeitig wurde aber auch der Orchesterpart aufgewertet. Aus einem Solokonzert wurde eine konzertante Sinfonie mit neuem Titel und neuer Opus-Zahl. Man sollte meinen, dass beides nicht zusammen passt; doch Christian Poltéra und das Mainzer Orchester beweisen aktuell (einmal mehr) das Gegenteil. Solist und Orchester ringen geradezu miteinander und mit sich selbst: Wieviel Selbstständigkeit darf man sich erlauben, wieviel Anpassung ist nötig?

Eigentlich ist ja bereits die Idee des „Konzerts“ ambivalent. Im Lateinischen bedeutet das Verb „concertare“ eher „streiten“, im Italienischen eher „einstimmen“ oder „harmonisieren“. Poltéras Cellisten-Kollege deutet den Dialog metaphorisch: Wie kann sich das Individuum in Staat und Gesellschaft behaupten und entfalten? Er denkt dabei auch an die 1948 in der Sowjetunion verkündete Doktrin des Sozialistischen Realismus, die die Komponisten in das Korsett eines einfachen, naturalistischen Stils zu zwingen suchte.  (Nachzuhören in einer Werkbetrachtung des Westdeutschen Rundfunks vom 9.7.2016). Rostropowitsch selbst bezeichnete das Werk als „das große Monster“; Müller-Schott nennt es „das Virtuoseste, was jemals für Cello geschrieben wurde“. Man sieht und hört es an diesem Abend: Dem Solisten ist kaum eine Pause gegönnt, nicht einmal nach der anstrengenden Kadenz im 2. Satz. Die Hand turnt geradezu übers Griffbrett – vom tiefsten Bassregister bis ganz oben zum Steg, manchmal in einem geradezu irrwitzigen Tempo. Immer wieder gibt es mehrstimmige Passagen.  Es gibt nicht nur schnelle Wechsel zwischen Arco und Pizzicato; im 3. Satz kommt sogar beides gleichzeitig vor. Dass Christian Poltéra nach dem begeisterten Schlussapplaus keine Zugabe macht, ist nur logisch: Was könnte er noch zeigen – physisch wie artistisch?

Faszinierend am Stück ist, dass es sich nicht in der Virtuosität erschöpft. Jede Kraftanstrengung steht im Dienst des musikalischen Ausdrucks. Und neben der manchmal beängstigenden Motorik gibt es auch Passagen, in denen das Cello sich aussingen darf – vor allem im 2. Satz, der eine Kombination von Scherzo und Andante darstellt. Auf der anderen Seite beeindrucken Farbe und Aussagekraft des Orchestersatzes; von der Besetzung her sind mir besonders der markante Klarinettenpart im 2. und der ätherisch wirkende Einsatz der Celesta im 3. Satz geblieben. Markant im Ausdruck ist der voranschreitende, marschartige Beginn des ersten Satzes, gegen den sich nicht nur die Kantilene des Cellos, sondern dann auch chromatische Melodielinien im Orchester profilieren. Sehr ambivalent habe ich den 3. Satz empfunden: Er kommt zunächst als schlichter Variationensatz daher, und man glaubt den Tonfall von „Peter und der Wolf“ zu hören. Doch dann bricht Prokojew mit der Konvention, und man weiß zunehmend weniger, wer im nächsten Takt wie einsetzt. Auf der einen Seite ist dieser Satz ein grandioser musikalischer Witz, andererseits wirkt er im Gesamtkontext wie ein riskantes Spiel auf Leben und Tod. Wahrscheinlich stimmt beides.

Sehr viel flächiger und grobschlächtiger kommt gegen Prokofjews nuancierte Partitur nun Khatchaturjans „Spartacus“ daher. Breite Klangstränge, lange melodische Linien, eindrucksvolle großorchestrale Wirkungen erinnern an sinfonische Filmmusik à la Hollywood. Doch zielte die Musik darauf ab, dem Tanz Raum zu geben: Feinheiten dürfte man eher in der Choreographie finden. Darüber hinaus beugte sich der Komponist dem Diktat des sozialistischen Realismus. Auch Khatchaturian wurde 1948 gemaßregelt; Mstislaw Rostropowitsch, der mit ihm  befreundet war, zitierte später folgende Aussage: „Slawa, was hätte ich als Komponist nicht alles erreichen können, wenn diese Schweinehunde, im Russischen benutzte er ein noch schlimmeres Wort, mich 1948 nicht so schikaniert hätten.“ (Das Zitat entnehme ich dem lesenswerten Mainzer Programmheft von Christin Hagemann.)

Selbst nach Stalins Tod und seiner offiziellen Rehabilitierung hatte es Khatchaturian schwer, das Sujet überhaupt durchzusetzen: Eine Story über den legendären Anführer des größten Sklavenaufstandes der klassischen Antike erschien dem Regime verdächtig; glücklicherweise hatte Khatchaturian Karl Marx, den Paten der sowjet-marxistischen Ideenwelt, auf seiner Seite. In einem Brief vom 27.2.1861 an Friedrich Engels hatte der nämlich festgestellt, Spartacus sei „der famoseste Kerl, den die ganze antike Geschichte aufzuweisen hat“. Die dramaturgische Aufgabe des Balletts lag nun einerseits darin, Spartacus’ Niederlage und Tod in einen späten Sieg des proletarischen Kampfes in der Sowjetunion umzudeuten. Andererseits musste es dem überlieferten Tanzstil des russischen Balletts Rechnung tragen – wozu die Liebesszenen des Spartacus und des römischen Generals Crassus mit ihren jeweiligen weiblichen Gespielinnen Phrygia und Aegina beitrugen. Gerne hätte ich gewusst, wo und wie bzw. ob überhaupt Dmitri Juroswki bei seinem Arrangement in Khatchaturians Partitur eingefriffen hat; das Programmheft schweigt dazu leider. Beeindruckend jedenfalls ist, wie trotz der großflächigen Anlage Abwechslung und Spannungsaufbau gelingen – und mit welcher Kraft, Lust und Präzision sich die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters in diese Musik hineinwerfen. Langer Applaus im gut besuchten Großen Haus des Staatstheaters!

Andreas Hauff

 

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