Mainz: Sinfoniekonzert Nr. 7 – mit Uraufführung von Jörg Iwers Hornkonzert 27.4.2024
Eine Uraufführung in einem Sinfoniekonzert ist immer etwas Besonderes – sogar beim Philharmonischen Staatsorchester Mainz, bei dem seit Jahren regelmäßig Raritäten auf dem Programm stehen. Im 7. Abonnementskonzert der Saison im Großen Haus des Staatstheaters stand das Horn als Soloinstrument im Vordergrund. Es dirigierte GMD Hermann Bäumer. Stefan Dohr, seit 1993 Solohornist der Berliner Philharmoniker, interpretierte in Anwesenheit des Komponisten das für ihn geschriebene neue Konzert für Horn und Orchester von Jörg Iwer. Iwer (Jg. 1957) hat sich einen Namen als Dirigent, Komponist und Arrangeur gemacht; seine Kompositionslehrer waren Wolfgang Hufschmidt und Nicolaus A. Huber; und sein Interesse gilt seit Jahren neben der klassischen Tradition auch der Film-Musik und verschiedenen Cross-Over-Projekten. Von daher ließ sich eine nicht allzu schroffe oder komplexe Tonsprache bereits erwarten. Ungewöhnlich war allerdings, dass der Hornist nicht nur mit dem Orchester, sondern auch sozusagen mit sich selbst konzertierte. Zur Komposition gehörte nämlich eine in freier Natur aufgenommene Tonaufnahme mit Stefan Dohr, die etappenweise über Lautsprecher eingespielt wurde.
Aus der Konzerteinführung im Großen Haus des Staatstheaters mit Konzertdramaturgin Theresa Steinacker und Hermann Bäumer und dem Nachgespräch mit GMD, Komponist und Solist im Glashaus unter der Theaterkuppel war einiges über die Hintergründe zu erfahren. Der GMD, immer auf der Suche nach Raritäten und Novitäten, suchte eine passende Ergänzung zu Anton Bruckners Romantischer Sinfonie (Nr. 4 Es-Dur) im zweiten Teil des Konzertabends. Stefan Dohr, mit dem Bäumer, einst als Posaunist selbst bei den Berliner Philharmonikern, seit dieser Zeit in Verbindung steht, ist seinerseits seit Jahren an einer Erweiterung des schmalen Repertoires für Horn und Orchester gelegen. Er konnte seinen alten Schul- und Studienfreund Iwer überzeugen, ihm ein Hornkonzert zu schreiben. Diese unkomplizierte persönliche Ebene erleichterte sicher den Umgang mit den technischen Fragen. Grund Idee Iwers war gewissermaßen, mit heutigen technischen Mitteln das Horn als typisch romantisches Instrument zu zeigen. Damals, in einer Zeit fortschreitender technischer Innovationen, stand es für die Sehnsucht nach einer intakten und sprachfähigen Natur.
Die Tonband-Partie des Horns wurde in einem Wald in der Umgebung von Iwers Wohnort im brandenburgischen Fürstenberg mit drei Mikrofonen aufgenommen, eines davon hinter einem Baum, um eine Art Raumklang zu ermöglichen. Die lebhaften Vogelstimmen, die auf der Tonspur zu hören sind, stammen dagegen aus einem artenreichen Waldgebiet an der polnischen Ostseeküste. Ergänzend werden Glockenklänge, menschliche Schritte und einige Synthesizer-Effekte eingeblendet. Der Hornpart als solcher verlangt an einigen Stellen dreistimmige Klänge. Sie entstehen dadurch, dass der Hornist zusätzlich zum gespielten Ton einen weiteren singt und die beiden Töne zusammen einen gemeinsamen Oberton erzeugen. Diese Technik findet.man schon in der Kadenz von Carl Maria von Webers Horn-Concertino aus dem Jahr 1815. Die Häufung am Ende von Iwers Konzert ist aber, wie Dohr berichtete, sehr anstrengend. Der Solist muss sich nicht nur auf die richtige Intonation der zwei produzierten Töne konzentrieren, sondern dabei auch kräftig singen, um das richtige Mischungsverhältnis zu erzielen. Spätestens hier wurde der Verzicht auf eine Zugabe vor der Pause plausibel.
Die Aufführung konnte ich vom 1. Rang aus verfolgen. Von hier hatte ich den Eindruck, dass Komposition und Aufführung weniger auf den Gegensatz zwischen Realklang und Aufnahme setzten als auf die Verschmelzung der verschiedenen Klang- und Geräuschquellen. Des Öfteren war kaum zu unterscheiden, ob Hornklänge aus dem Lautsprecher kamen oder aus der vierfach besetzten Horngruppe des Orchesters, und ob Geräuscheffekte eingespielt oder live produziert wurden. Auch die dreistimmigen Stellen im Hornpart stachen als Besonderheit nicht hervor. Das Konzert beginnt mit einer regelmäßigen und lang andauernden Pulsation der Streicher, zu der sich einzelne musikalische Gesten und dann auch lang anhaltende Borduntöne in verschiedenen Stellen zugesellen. Man kann sich gut einen Menschen in romantisch-sehnsuchtsvoller Stimmung vorstellen, der beim Wandern in den Wald hineinhorcht. Passend dazu nennt Iwer Franz Schuberts Liederzyklen „Die Schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ als Anregung. Dem ruhigen Anfang folgt ein von Hornsignalen und Trompetengeschmetter geprägter Mittelteil. Hier denkt man an Jagd und an Militär; und tatsächlich unterlag der Wald bei Fürstenberg jahrzehntelang militärischer Nutzung; zeitweise lagerte die sowjetische Armee hier Atomwaffen. Dazu passt ein zeitweise erklingender Marschrhythmus. Zum Ende hin beruhigt sich der Duktus der Musik wieder. Ein klagendes Englischhorn sticht heraus. Die letzten Klänge kommen vom Solo-Horn, gefolgt von leisen Vogelstimmen – ein Stück komponierte Nostalgie, ohne Straßenverkehr, Fluglärm oder gar Kettensägen im Hintergrund!
Bewusst entschied sich der GMD bei Bruckners „Romantische Sinfonie“ für die zumeist übliche Version von 1878 mit dem 1880 neuerlich überarbeiteten Finale. Ob Iwers Hornkonzert seinen Blick auf die Sinfonie geprägt oder gar verändert habe, konnte ich Bäumer im Nachgespräch fragen. Er verneinte dies; von Bruckners Sinfonie habe er eine klare Vorstellung gehabt und von daher die Neukomposition erbeten und erschlossen. Für den Hörer spielt die Abfolge aber wohl doch eine Rolle. Vermutlich als Folge des musikalischen Waldspaziergangs vor der Pause habe ich selbst mit den Bruckner’schen Klängen diesmal alpine Landschaftsimpressionen verbunden – und dabei deutlich mehr schroffe Felswände als freundliche Almwiesen assoziiert und mehr den Eindruck von Gewalt als das Gefühl von Harmonie erfahren. Selbst die lange, freundliche Cello-Kantilene des zweiten Satzes mündete in eine unheimlichen Zuspitzung. Immer wieder glänzten die Bläser, allen voran die Hörner, mit schönen und präzisen Solostellen und kammermusikalischen Phrasen, und immer wieder hielten massive Bläsereinsätze oder sich steigernde Tutti-Passagen dagegen. Zuverlässig geriet so das romantische Element ein ums andere Mal irgendwann in die Defensive. Bäumer gelang mit dem Philharmonischen Staatsorchester ein außergewöhnlich stringenter Spannungsaufbau, an dessen Dramatik auch die ruhig ausgekosteten Pausen zwischen den vier Sätzen nichts änderten. So gut wie niemand im Publikum wagte zu rascheln oder zu husten! In den langen Schluss-Beifall kam mir spontan eine Überschrift für diese Bruckner-Erfahrung: „Ein Höhenritt auf Messers Schneide“.
Andreas Hauff