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MAINZ/Staatstheater: „DER BLINDE PASSAGIER“ von Maria Lazar (1885 – 1948)– (erste Aufführung nach der UA in Düsseldorf))

23.06.2025 | Theater

Mainz: „DER BLINDE PASSAGIER“ (Maria Lazar) 22.6.2025 (erste Aufführung nach der UA in Düsseldorf)

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Carl Grübel, Holger Kraft, Béla Milan Uhrlau. Copyight: Andreas Etter

Mainz: „DER BLINDE PASSAGIER“ (Maria Lazar) 22.6. 2025  (erste Aufführung nach der UA in Düsseldorf)

Zwei Gerüste als Andeutung einer Reling, einer Treppe in den Laderaum, deer Zwischenraum als stilisierte Kajüte mit Schlafkoje, ein einfacher Tisch mit vier Stühlen aus Holz – viel Raum braucht  man auf der Werkstattbühne U 17 am Staatstheater Mainz nicht für Maria Lazars Schauspiel  „Der blinde Passagier“. Wir schreiben das Vorkriegsjahr 1938. Ein kleines dänisches Paketschiff für den grenzüberschreitenden Verkehr liegt in einem deutschen Hafen vor Anker – vermutlich an der südschleswigschen Ostseeküste gegenüber der dänischen Insel Fünen. Auf dem Boot ist es eng, es hat nur eine kleine Besatzung, bestehend aus Kapitän Petersen, seiner Tochter Nina, seinem Sohn Carl als Leichtmatrosen, dazu Steuermann Jörgen, Ninas Verlobten. Nina und Jörgen kommen gut gelaunt von ihrem Landgang, nach Kleiderkauf und Besuch im Kaffeehaus, wo sie sich mit jungen Leuten aus Deutschland gut unterhalten und getanzt haben. Ihr Eindruck: Die Deutschen sind gar nicht so schlimm wie behauptet. Kapitän Petersen kommt etwas später, beladen mit Einkäufen; er hat Nina und Jörgen im Gedränge verloren. Es gab eine Verfolgungsjagd: Eine Menschenmenge hetzte einen Mann Richtung Hafen, der dann ins Wasser gesprungen sein soll. Aber was geht das ihn, Petersen, an? Er  ist zufrieden: Er hat noch einen lukrativen Transportauftrag an einen weiteren deutschen Hafen ergattert und freut sich auf den Feierabend mit dem besten Wermut an Bord. „Was ist es warm und schön und gemütlich hier. Heute wollen wir es uns so richtig gut gehen lassen.“ Am Horizont wartet der Heimathafen, und das Wiedersehen mit seiner Frau, die er mit seinen Mitbringseln überraschen will. Carl ist an Bord geblieben. Einsilbig und mit undurchsichtiger Miene erwartet er die Familie. Merkwürdig: Die Wermut-Flasche ist weniger voll als gedacht; eines der Gläser fehlt, Carl hat seinen blauen Pullover nicht mehr an, und beim Boot nebenan sucht man im Wasser nach einem Ertrunkenen. Warum ist Carl so verschlossen und übelgelaunt? Weiß er etwas, hat er ein Geheimnis? Wir ahnen: Das Schiff hat einen blinden Passagier.

Maria Lazar (1895-1948), die lange vergessene Autorin dieses Stückes, stammte aus Wien, wo sie am Schottenhof im 1. Bezirk als jüngste Tochter einer großbürgerlichen Familie jüdischer Abstammung aufwuchs,. Sie besuchte das von der bedeutenden Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald (1872 – 1940) gegründete Mädchenrealgymnasium in der heutigen Herrengasse. Bereits in der Schulzeit schloss sie Freundschaft mit der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis (1872-1950) und der Schauspielerin Helene Weigel (1900-1971), der späteren Ehefrau des Dichters Bertolt Brecht. Seit 1920 arbeitete sie als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin in Wien Mitte 1933 verließ sie angesichts der verschärften politischen Lage Österreich und konnte zusammen mit Weigel und Brecht auf Michaelis’ Anwesen auf der kleinen dänischen Insel Thurö (südlich der Stadt Svendborg auf der Insel Fünen) unterkommen. Durch ihre (nach drei Jahren gescheiterte) Ehe mit dem schwedischen Journalisten Friedrich Strindberg (1897-1978) hatte sie die schwedische Staatsbürgerschaft erworben und konnte mit ihrer Tochter vor der deutschen Wehrmacht nach Stockholm ausweichen. Seit 1946 unheilbar schwer erkrankt, nahm sie sich dort mit 52 Jahren das Leben. Als Autorin wird sie in erst in den letzten Jahren wieder entdeckt. „Der blinde Passagier“ tauchte sogar erst 2022 aus dem Nachlass auf. Just am 31.5.2025, vier Tage vor der Mainzer Premiere, fand überhaupt erst am Düsseldorfer Schauspielhaus die Uraufführung statt. In der kommenden Spielzeit wird das Stück auch in St. Pölten, Kiel und Oldenburg zu sehen sein. In Mainz wird es im Herbst wieder aufgenommen.

Schon 1934 rühmte ihre einstige Lehrerin und Schulleiterin Eugenie Schwarzwald an Maria Lazar,  dass sie als Autorin die Dinge „rein menschlich – ohne Parteizugehörigkeit“ behandele und den Mut habe, „Dunkel und Licht zu mischen, wie das Leben selbst es tut“. Das spürt man in dieser Mainzer Inszenierung, für die Luis Dekant (Regie), Felicia Riegel (Bühne), Antonia Hilchenbach (Kostüme), Matthias Zangerle (Licht) sowie Lucia Kramer und Jörg Vorhaben (Dramaturgie) verantwortlich zeichnen. Carl (Carl Grübel) ist ein sehr ernsthafter junger Mann, der sich über den verbrecherischen Charakter des deutschen Nazi-Regimes keine Illusionen macht. Er hat dem Verfolgten, dem jüdischen Wiener Arzt Dr. Hartmann, aus dem eiskalten Wasser geholfen und ihn zunächst in seinem Bett versteckt. Der hatte, kurz vor dem Ertrinken, das Schiff mit der dänischen Flagge gesehen und war darauf zu geschwommen. Für Carl ist es selbstverständlich, Ertrinkende zu retten und Schutzsuchenden Zuflucht zu gewähren. „Willst du unsere Fahne verraten?“ fragt er seine Schwester, die als erste hinter sein Geheimnis kommt.  Carlotta Hein zeichnet Nina als eine eher herbe Person, die zunehmend aus sich herausgeht – erst in naiver Fröhlichkeit, dann im Mitgefühl mit dem Flüchtling, schließlich in der Entschlossenheit, dessen Leben auch gegen den eigenen Bräutigam zu verteidigen. Jörgen (Béla Milan Uhrlau) wirkt wie ein jovialer Seebär, doch sein Mitgefühl mit den Opfern von Verfolgung ist gering: Er möchte den Flüchtigen den deutschen Behörden übergeben. und verrät dessen Anwesenheit dem Kapitän. Petersen (Holger Kraft) weiß, dass in Deutschland nicht alles mit rechten Dingen zugeht, möchte aber nicht gegen Vorschriften verstoßen und sein Geschäft nicht gefährden. „Grenzen sind Grenzen, und Gesetz ist Gesetz“, sagt er, ist aber dann doch gutherzig genug, den Flüchtigen nicht von Bord zu schicken. Im nächsten deutschen Hafen hält tatsächlich die ganze Besatzung dicht.

Dass Nina den blinden Passagier vor den Kontrollen in ihrer Koje versteckt hat, weckt allerdings Jörgens Eifersucht. Die steigert sich noch, als er die beiden im intensiven Gespräch bemerkt. Nina sei wohl in den „Judenbengel“ verliebt, verhöhnt er, was zunächst nicht mehr als eine Mischung von Mitgefühl und Faszination sein dürfte. Nun aber horcht die junge Frau in sich hinein, und stellt fest, dass sie sich tatsächlich verliebt hat. Dr. Hartmann (Benjamin Kaygun), offensichtlich ein kultivierter Mensch aus guten Verhältnissen, muss sich entweder in der Kajüte oder im Frachtraum verstecken. Er weiß sich dem Wohlwollen der kleinen Mannschaft ausgeliefert und ist sich der Peinlichkeit seiner Situation bewusst . Er versucht, niemandem zu nahe zu treten und niemanden zu verletzen, kann aber entscheidende Wahrheiten nicht verleugnen. „Sprichst Du von Liebe zu einem Mann, der keinen Boden unter seinen Füßen hat?“sagt er zu er Nina. Auf die Frage „Was haben Sie eigentlich verbrochen?“ antwortet er ihr:„Ich ließ mich in die Welt setzen – von jüdischen Eltern in Wien.“ Ebenso nüchtern wie betrübt stellt er fest: „Hier ist kein Mensch auf ein Schiff gekommen, sondern ein Schicksal.“ Wie schwer es ihm fallen muss, nicht zu resignieren, deutet die Regie an, als sie ihn anfangs – im Fieber kurz nach der Rettung aus dem Hafenbecken – zitternd Paul Celans „Todesfuge“ zitieren lässt – ein Gedicht, das den Massenmord an den Juden thematisiert und das es 1938 noch gar nicht gab  Ein wenig Hoffnung gibt ihm tatsächlich noch das Ziel: An einen Urlaub in Dänemark hat er idyllische Kindheitserinnerungen. (Wahrscheinlich ging Marie Lazar bei der Konzeption davon aus, dass Hartmann ein wenig Dänisch kann,und die Besatzung selbstverständlich Deutsch spricht. Sprachprobleme gibt es im Lauf des Stückes offensichtlich keine, Verständnisschwierigkeiten durchaus.) Jörgen radikalisiert sich unterdessen, hört im Radio Nazi-Parolen  und  gibt eben solche von sich: „Die werden schon ganz genau wissen, warum sie so einen zum Teufel jagen.“ Doch noch ist nichts entschieden, das Schiff steuert auf die dänische Küste zu, man ist gespannt auf den Fortgang. Verdunkelung, schnelles Uhrenticken und kleinere Bühnenumbauten signalisieren dem Publikum den Wechsel von Tag und Nacht und die Ungeduld der Beteiligten. Über den schnellen Wechseln vergisst man leicht, wie langsam in Wirklichkeit die Zeit an Bord und erst recht unter Deck vergeht. Die Menschen haben quälend viel Gelegenheit zum Grübeln, zumal wenn sie allein auf Posten sind oder sich einsam fühlen.

Im Heimathafen will Petersen den Flüchtling, der keine Papiere mehr hat, nicht an den Behörden vorbeischleusen. Carl will sich stattdessen an einen Freund wenden, der am Hafen wohnt und en blinden Passagier mit seinem Boot wegbringen könnte. Nur ist dieser Freund nicht anzutreffen. Stattdessen taucht – als gut gemeinte freudige Überraschung – Frau Petersen (Anna Steffens) auf, um gleich an Bord ein festliches Verlobungsessen für Nina und Jörgen zu veranstalten. Mit sich bringt sie den heiß geliebten Familienhund, der zwar nicht in die Kajüte darf, aber die Anwesenheit eines Fremden spürt und fortwährend bellt. Man könnte ihn in den Laderaum sperren, um kein Aufsehen zu erregen – aber „Sambo zu den Ratten!“, das kommt für Mutter Petersen nicht in Frage! Gegen den Passagier Hartmann als Gast beim liebevoll zusammengestellten Familienessen hat sie erst einmal nichts: Dann kommen aber die bezeichnenden Sätze „Sind Sie auch so einer, der nicht zurück nach Hause kann? Es gibt bei uns jetzt viele, viel zu viele.“ Jörgen und Nina versuchen miteinander zu tanzen – eine Art Foxtrott, so wie vor der Abfahrt, doch es funktioniert nicht. Sie verstehen sich auch körperlich nicht mehr. Nina lädt Hartmann zum Tanz ein – und die beiden harmonieren! Jörgen glüht vor Zorn, Mutter Petersen versteht die Welt nicht mehr, Carl gerät in Streit mit seinem Vater und gesteht schließlich weinend, dass er mit dessen Pistole kurzerhand den kläffenden Hund erschossen hat. Hartmann verabschiedet sich höflich. Er hat die Pistole gegriffen und tötet sich hinter der Bühne selbst. Vater Petersen ist erschüttert, Nina und Carl sind verzweifelt, Mutter Petersen beweint den toten Hund und das verpatzte Essen, und Jörgen geht die Polizei benachrichtigen. Sein Resümee lautet: „Der arme Mensch tut mir leid, aber wahrscheinlich war es das beste für ihn.“ Tatsächlich hat aber die Handlung für alle die schlimmstmögliche Wendung genommen – aus einer Situation heraus, in der jeder auf sich selbst gestellt war. Zum Vergleich: In Anna Seghers’ berühmten Roman „Das siebte Kreuz“, der ebenfalls 1938 entstand, kann der politische Flüchtling Georg Heisler am Ende in Mainz das rettende Schiff in die Niederlande besteigen – aber nur dank einer ganzen Kette von organisierten und spontanen Helfern.

Andreas Hauff

 

 

 

 

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