Arthur Honegger und Jacques Ibert: L’Aiglon • Staatstheater Mainz • Vorstellung: 16.02.2024
(4. Vorstellung • Premiere am 25.01.2025)
Ein König ohne Land: Schönbrunn, sein kleines St. Helena
Napoleon II., der einzige legitime Nachkomme Napoleon Bonapartes, taucht nur ganz selten in der Geschichtsschreibung auf. «L’Aiglon» (der junge Adler), die Gemeinschaftsarbeit von Arthur Honegger (1892-1955) und Jacques Ibert (1890-1962), die sich mit seinem Leben befasst, ist nun am Staatstheater Mainz zu erleben.
Foto © Andreas Etter
In Krisenzeiten hatte die Beschäftigung mit Napoleon II. Konjunktur. Immer dann, wenn die Forderung nach «Führung» lauter wurde, so noch zu Lebzeiten des kleinen Adlers, im Umfeld der Julirevolution 1830, nach der Niederlage im Deutsch-Französischen-Krieg oder im Zwischen-Kriegs-Europa des 20. Jahrhunderts. 1829 erschien das Gedicht «Le Fils de l’homme, ou Souvenirs de Vienne» von Auguste-Marseille Barthélémy (1796-1867), einem Parteigänger Napoleons, als Rache, dass ihm, im Jahr zuvor extra nach Wien gereist, verweigert wurde sein historisches Epos «Napoléon en Égypte» Napoleon Franz Bonaparte zu überreichen. Die Veröffentlichung bescherte ihm drei Monate Haft wegen Majestätsbeleidigung. Schon seit 1824 hatte er zusammen mit seinem Freund Joseph Méry (1798-1866; als Librettist am Libretto zu Verdis «Don Carlos» (1867) beteiligt, als Dichter Autor der Vorlage zu Verdis «La battaglia di Legnano») die antibourbonischen Satiren herausgegeben. 1878 erschienen die überarbeiteten Erinnerungen von Anton Prokesch Graf von Osten (1795-1876): «Mes relations avec le duc de Reichstadt. Mémoire posthume traduit de l’allemand.» Weitere Veröffentlichungen rückten zu dieser Zeit das erste napoleonische Zeitalter wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein, als da Memoiren wären, wie die des Generals Marbot, Lustspiele, wie «Madame Sans-Gêne» (1893; vertont von Umberto Giordano) von Victorien Sardou (1831-1908; Autor der «Tosca» (1887)) oder das Drama «L’Aiglon» (1900) von Edmond Eugène Alexis Rostand (1868-1918). Das von der Oper in Monaco in Auftrag gegebene Werk wurde 1937 uraufgeführt. Auch eine Krisenzeit. Wie die Gegenwart. Von enormer Bedeutung für die Beschäftigung mit dem kleinen Adler war, und ist, dass die Informationen aus Österreich nur sehr spärlich flossen und so reichlich Platz für Spekulationen ist.
Der erfahrene Librettist Henri Cain (1857-1937; zahlreiche Libretto für Jules Massenet und 1936 für Franco Alfano Umarbeitung von Rostands Grosserfolg «Cyrano de Bergerac» (1897)) hat auf Basis des Dramas von Rostand, das im Einzelnen korrekte historische Fakten verarbeitet, das Libretto erstellt. Er beschreibt, wie der junge Adler mit der Rückkehr seine Mutter Louise von Österreich in die Heimat aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen wird und nach Schloss Schönbrunn kommt, das sein «kleines St. Helena» wird. Cain zeigt den kleinen Adler hin- und hergerissen zwischen Kulturen, unter «Aufsicht» des quasi allmächtigen Staatskanzlers Metternich auf der Suche nach seinem Platz im Leben, in der Politik und in der Geschichte. Und Biografien, die gleichermassen von ihrer Zeit erzählen und zeitlos sind, und in Form von Lücken und unterschiedlichen Perspektiven Raum zur Interpretation lassen, waren immer populär.
«L’Aiglon» ist eine Gemeinschaftsarbeit von Arthur Honegger und Jacques Ibert. Beide Künstler, besonders aber Honegger, der zur Group des Six (Georges Auric (1899–1983), Louis Durey (1888–1979), Arthur Honegger (1892–1955), Darius Milhaud (1892–1974), Francis Poulenc (1899–1963) und Germaine Tailleferre (1892–1983)) gehörte, waren Gemeinschaftsarbeiten gewohnt. Unerklärlicherweise ist im Falle von «L’Aiglon» nicht überliefert, wer welchen Teil komponierte. Einmal darauf angesprochen, dass auch nicht zu hören sei, wer was komponierte, entgegnete Honegger: «Woher soll ich wissen, wie dieser Ibert komponiert?»
uise Kautz (Inszenierung) lässt das Geschehen wohltuenderweise in seiner Zeit spielen und fokussiert auf die Suche von Napoleon Franz Bonaparte und das wiederholte Kippen des Ganzen ins Surreale. Valentin Mattka hat ihr dazu einen schlichten, klassizistischen Bühnenraum entworfen, den sie mit Versatzstücken wie Möbeln, Bildern oder einer Theaterbühne ergänzt. Der Maskenball des dritten Akts findet in einem Nebenraum statt, während L’Aiglon die Geschichte seines Lebens auf einer Theaterbühne und das Zerbrechen des Protagonisten erleben muss. Hier erreicht die Inszenierung die grösste Eindrücklichkeit, wenn die Figuren des Kleinen Adlers, der zuschaut und des Kleinen Adlers auf der Bühne verschmelzen. Im letzten Akt zerbrechen dann sogar die Bilder und sind nur noch fragmentarisch zu erkennen. Die zeitgenössischen Kostüme von Tanja Liebermann wie auch die Videos von Judith Selenko und das Licht von Frederik Wollek ergänzen die Visuelle Komponente des Abends perfekt. Kautz bringt eine eindrückliche Biografie die Bühne. Die Frage nach der Entstehung von und dem Umgang mit Geschichtsbildern wird argumentativ reich befeuert, aber nicht beantwortet. Das macht diese Inszenierung so unglaublich interessant.
Der scheidende GMD Hermann Bäumer führt das Philharmonische Staatsorchester Mainz souverän durch die Vorstellung und lässt in jedem Moment seine Begeisterung für das Stück erkennen. Die Spannungsbögen sind perfekt gesetzt, so dass man dem Stück atemlos folgt. Der Opernchor des Staatstheater Mainz (Chorleitung: Sebastian Hernandez-Laverny) lässt sich von der Spielfreude und dem ausgesprochen differenzierten «Spannungsklang» anstecken.
Wie schon im Drama von Edmond Eugène Alexis Rostand ist die Rolle des Aiglon auch in der Oper als Hosenrolle konzipiert. Nach kurzen Startschwierigkeiten findet Alexandra Samouilidou als L’Aiglon, Herzog von Reichstadt, zu guter, konstanter Form und intensivem Spiel. Derrick Ballard glänzt als Lakaie Flambeau mit gepflegtem Bass-Bariton. Gabriel Rollinson gibt mit kernigem Bariton einen Fürsten von Metternich von beeindruckendem Format. Daniel Semsichko überzeugt als Aiglons engster Vertrauter Graf Prokesch-Osten. Tim-Lukas Reuter als Marschall Marmont, Myungin Lee als Friedrich von Gentz, Collin André Schöning als französischer Militärattaché, Patrick Hörner als Polizeichef Sedlinsky, Julietta Aleksanyan als Thérèse de Lorget, Anke-Peifer als Marie Louise, Gräfin von Parma, Liudmila Maytak als Komtesse Camerata, Verena Tönjes als Fanny Elssler, Alexander Simoes als Venezianische Maske, Jinsei Park als Zweite venezianische Maske, Doğuş Güney als Gilles, Agustin Sanchez Arellano als Pierrot, Scott Ingham als Polichinelle / Ein Offizier, Dennis Sörös als Harlekin, Franziska Jobst als Isabelle und Katharina Sebastian als Eine Marquise stammen alle aus dem eigenen Ensemble.
Es hat sich mehr als gelohnt: Ein Theater-Nachmittag von ungeahnter Intensität.
Weitere Aufführungen: 16.03.2025 und 19.04.2025
17.02.2024, Jan Krobot/Zürich