Mainz: „9. Sinfoniekonzert: Mahler, Sinfonie Nr. 10 (Fassung D. Cooke) 25.5.2019
Auch an diesem Abend macht das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter GMD Hartmut Bäumer der Auszeichnung alle Ehre, die ihm am 26. April der Deutsche Musikverleger-Verband verliehen hat. Der Preis gilt „dem besten Konzertprogramm der Spielzeit“. Die Mainzer Sinfoniekonzerte, so heißt es treffend in der Begründung, „verbinden programmatisch umsichtig und in selbstverständlicher Manier das klassische Orchester-Repertoire mit anregenden Wieder- und Neuentdeckungen.“ Im letzten, dem 9. Sinfoniekonzert der Saison im Großen Haus des Staatstheaters stellt sich das Orchester noch einmal einer besonderen Herausforderung: Gustav Mahler hat seine 10. Sinfonie unvollendet hinterlassen.
Allerdings liegen alle Sätze als Entwurf auf 3 bis 5 Notensystemen im Particell vor, und Lücken im zeitlichen Ablauf gibt es keine. Einen Partiturentwurf gibt es vollständig zum 1. Satz, tw. zum 2. Satz und ansatzweise zum 3. Satz. Beim 3. Satz ist nach dem Trio schlicht ein „Da Capo“ des 1. Teils notiert. Der 1. Satz wurde sogar in die kritische Gesamtausgabe der Werke aufgenommen und ist fester Bestandteil des Konzertrepertoires. Diese Kombination von fertig konzipierter Urgestalt und unfertiger Ausführung hat zunehmend Bearbeiter auf den Plan gerufen, mit dem Ziel, das Werk in Mahlers Sinn zu vervollständigen. Der erste, der eine Aufführungsfassung der vollständigen Sinfonie vorlegte, war 1964 der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke (1919-1976); dafür hatte er mit dem deutsch-englischen Dirigenten und Komponisten Berthold Goldschmidt(1903-1996) auch einen zweiten Mahler-Kenner zu Rate gezogen. In überarbeiteter Form erschien 1976 Cookes Version in Partitur. Sie ist nicht unumstritten, da sie bei der Auffüllung der z.T. sehr sparsamen Mahler‘schen Skizzen vorsichtig vorgeht; zu vorsichtig, meinte etwa vor Jahren im Magazin „Rondo“ der Musikjournalist Hans-Jürgen Schaal.
Allerdings kann man auch mutmaßen, dass Mahler sich von der überbordenden Klanglichkeit der Jahrhundertwende abgewandt und sich wie später auch Strauss, Schönberg oder Strawinsky einem sparsameren und klareren Stil genähert hätte. Selbst die durch zahlreiche Bemerkungen im Entwurf belegte Tatsache, dass Mahler die Sinfonie auf dem Hintergrund seiner schweren Ehekrise als autobiographischen Schmerz- und Klagegesang entworfen hat, bedeutet ja nicht unbedingt, dass er die eigenen Emotionen durchweg ins Monumentale oder Plakative gesteigert hätte. In seiner Konzerteinführung erläutert GMD Bäumer nicht nur diesen Hintergrund. Indem er dem Publikum die Kopie einer Mahler’sche Skizzenseite aus dem 2. Satz und deren Übertragung und behutsame Vervollständigung durch Cooke in die Hand gibt, macht er die kompositorische Herausforderung anschaulich und weckt die Neugier auf das letztlich entscheidende klangliche Ergebnis.
Faszinierend gerät schon der Beginn des Adagios mit der ruhigen, unbegleiteten Bratschenmelodie, die mit ihrem unberechenbaren Verlauf und den bewussten Decrescendi auf die Spitzentöne hin schon eine Grundstimmung des Suchens und Zweifelns vorgibt. Ihr folgen weitere melodische und motivische Ideen, die klar exponiert, aber unterschiedlich behandelt werden. Mal darf eine Linie frei ausschwingen, mal wird sie zuspitzend und polyphon mit anderen kombiniert; einmal scheint es mir, als ob drei langsame Bruckner-Sätze übereinander gelegt wären. Oder penetrante Pizzicati oder gestopfte Blechbläser unterlaufen fratzenhaft die schönen Streicher-Kantilenen. Immer dichter wird der Satz und mündet in sich zuspitzender innerer Dramatik in den berühmten, clusterartigen Neuntonakkord. Danach zerfällt die Musik zunehmend ins Bruchstückhafte; klar konturierte Passagen wirken wie Erinnerungsfetzen. GMD Bäumer schafft es mit dem Philharmonischen Staatsorchester, den beinahe halbstündigen Satz mit großer Ruhe unter einen einzigen Spannungsbogen zu nehmen und diesen dann auch über die folgende knappe Stunde zu halten. Die anfangstypische leichte Unruhe im Publikum legt sich schnell; bald hüstelt niemand mehr, nicht einmal in die Pausen zwischen den Sätzen.
Schon mit dem 2. Satz wird deutlich, dass sich Cookes Fassung gut dazu eignet, die Modernität von Mahlers Entwurf herauszuarbeiten. Das erste der beiden Scherzi spielt mit Motiven und Taktwechseln; der angebahnte triumphale Schluss mündet ins Groteske. Sowohl hier als auch im 3. Satz kommt einem Strawinsky in den Sinn, dort wegen der mechanisch wirkenden Drehleier-Passagen und der symmetrischen Anlage. Meinte Mahler mit der Satzbezeichnung „Purgatorio“ („Fegefeuer“), dass die Musik leerläuft und sich nichts entwickeln kann? Biographisch fiel die Komposition dieses Satzes mit dem Höhepunkt seiner Ehekrise zusammen. Zum 4. Satz, dessen Bezeichnung „Scherzo“ er ersatzlos durchgestrichen hat, notierte Mahler „Der Teufel tanzt es mit mir.“ Bäumer nennt das Stück einen „ironischen Walzer“; er wirkt ein wenig wie ein Totentanz, vor allem wenn am Ende das Schlagwerk in den Vordergrund rückt und die Große Trommel mit einem dumpfen, trockenen Schlag der Musik ein Ende macht. Doch es geht gleich weiter ins „Langsam, schwer“ überschriebene Finale. Nur zaghaft rühren sich im Orchester an vereinzelten Stellen wieder die Lebensgeister. Mehrmals bringt die Große Trommel sie wieder zum Verstummen, bis sie sich irgendwann nicht mehr gegen die Vielzahl der Stimmen durchsetzen kann. Im atmosphärischen, später auch thematischen Rückgriff auf den ersten Satz mischen sich Schönes, Erhabenes und Tröstendes mit Grellem, Groteskem und Zynischem; aber dazu kommt dann eine zunehmende Ausdünnung aufs Wesentliche, eine Art Abschied in Tönen, ein freundliches Verlöschen.
Ob Gustav Mahler sich das im letzten Winter seines Lebens genau so vorgestellt hat, wissen wir nicht. Doch dass seine Musik in dieser Aufführung die Hörer über gut 80 Minuten mitgenommen, sie berührt und ergriffen hat, ist im langen Applaus nach betroffener Stille deutlich zu spüren. Und so wollen wir denn das Lob des Deutschen Musikverleger-Verbandes noch um einen Satz ergänzen: Das beste und originellste Programm funktioniert nur dann, wenn es – wie an diesem Abend – überzeugend vorgetragen wird.
Andreas Hauff