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MAINZ: SINFONIEKONZERT Nr. 4 mit „ALEXANDER NEWSKI“ (Prokofjew) u.a.

05.12.2018 | Konzert/Liederabende

Mainz: Sinfoniekonzert Nr. 4 mit „ALEXANDER NEWSKI“ (Prokofjew) u.a. 1.12.2018

Das Thema „Heimat“, dem er bereits ein „Konzert für junge Leute“ gewidmet hat, ist dem Mainzer GMD Hermann Bäumer ein ernsthaftes Anliegen – im umfassenden, menschheitlichen  nicht im verengten nationalen oder lokalen Sinne Viele Erzählungen über Heimat, sei sie bedroht, verloren oder wiedergefunden, haben sich tatsächlich in Musik niedergeshclagen; sie werden aber unterschiedlich wahrgenommen. Man denke nur an Bedřich Smetanas großen Zyklus „Mein Vaterland“, wo beim deutschen Publikum „Die Moldau“ die anderen, stärker historisch gefärbten Motive in der Beliebtheit bei weitem aussticht. Für das gedeihliche Zusammenleben von Nationen und Kulturen wäre es aber gut, nicht nur die eigenen Symbole und Mythen zu kennen, sondern auch die der anderen, und sich außerdem zu vergenwärtigen, dass Menschen Individuen sind, die sich nicht umstandslos einem Kollektiv zuordnen lassen. Immer wieder finden wir uns auch zwischen den Kulturen und zwischen den Stühlen. Aus dieser Perspektive heraus hat Bäumer für das 4. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz im Großen Haus des Staatstheaters drei völlig unterschiedliche Raritäten kombiniert.

„Archipelago S.“, ein Werk des musikalisch vielseitig interessierten Japaners Tōru Takemitsu (1930-1996), wurde im Frühjahr vom Publikum des Sonderkonzert „Auf Wiederhören!?“ aufs Programm gesetzt. (Hier besteht tradionell die Möglichkeit, mehrere moderne Kompositionen kennenzulernen und per Abstimmung eine davon zur Wiederholung im regulären Abonnenmentskonzert auszuwählen.) „Archipelago S.“ verdankt seinen Titel gleich mehreren Inselgruppen. Die eine liegt in der japanischen Seto-See (einem Binnenmeer zwischen den Inseln Honshū, Kyūshū und Shikoku), die zweite in der Ostsee vor Stockholm, die dritte im Pazifik vor Seattle. Die künstlerische Umsetzung besteht darin, dass Takemitsu ein aus 18 Personen bestehendes Kammerensemble in fünf unterschiedliche besetzte und im Raum verteilte Gruppen gliedert. Eine Art Hauptmotiv wandert wellenartig zwischen diesen fünf Klanginseln hin und her und erklingt dabei in immer neuen Klangfarben. Anders als manch andere moderne Komposition eignet sich dieses eher leise Stück ausgezeichnet für den Beginn eines Konzertabends;  seine Machart nimmt die Konzentration des Hörers schnell gefangen. Zusätzlich ist es ein Beispiel für Musik, die verschiedene Kulturen überbrückt: Melodie, Harmonie und Rhythmus sind westlich geprägt, die poetische Idee und die Sensibilität für den Klang eher ostasiatisch.

Es folgten zwei Werke russischer Komponisten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sergei Rachmaninow war im Dezember 1917 mit 44 Jahren vor den Folgen der Oktoberrevolution aus Russland geflohen und in die USA übersiedelt. Seinen Lebensunterhalt verdiente er im wesentlichen als Pianist in anstrengenden Konzerttourneen. Um seine dritte und letzte Sinfonie op. 44 in a-moll fertigzustellen, brauchte er zwei Sommeraufenthalte 1935 und 1936 am Vierwaldstättersee. Er hatte einen sehr hohen Anspruch an seine kompositorische Arbeit und empfand diese als ein Konzentrat individuellen Denkens und Fühlens: „Die Musik eines Komponisten sollte sein Geburtsland ausdrücken, seine Liebessaffären, seine Religion, die Bücher, welche ihn beeinflusst haben, die Bilder, die er liebt. Sie sollte das gesamte Produkt der Erfahrungen des Komponisten sein.“ Die Exilsituation belastete ihn stark: „Es ist das Bewusstsein, dass ich keine Heimat habe. Die ganze Welt steht mir offen, nur ein Platz ist mir verschlossen, und das ist mein eigenes Land, Russland.“ In der 3. Sinfonie scheint sich diese Situation zu spiegeln. Von romantischem Schwelgen in Klang ist wenig übriggeblieben, man spürt Skepsis und Pessimismus, aber auch Ausdrucksbedürfnis und Durchhaltewillen. Auffällig sind Anklänge an den gregorianischen Dies-Irae-Choral und Reminiszenzen an Tschaikowsky. Letztere deutete GMD Bäumer bei der Konzerteinführung biographisch: „Wie war das damals, als ich jung war?“ versetzte er sich in den Komponisten.

Auch Sergei Prokofjew war 1918 (mit 27 Jahren) ins Exil gegangen; Konzertreisen als Dirigent und Pianist führten ihn aber bald wieder in die Heimat zurück, und 1936 ließ er sich endgültig wieder in der Sowjetunion nieder. In seiner Musik zu Sergei Eisensteins Historienfilm „Alexander Newski“ von 1938 stellt er sich ganz in den Dienst der Darstellung. Der Film schildert, wie der junge Herrscher Alexander Jaroslwitsch Newski (ca. 1220-1263) aus dem damaligen zentralrussischen Großfürstentum Wladimir der Stadt Nowgorod gegen ein Heer von Kreuzrittern des Deutschen Ordens und des Schwertbrüderordens zur Hilfe kommt, nachdem er bereits erfolgreich ein schwedisches Invasionsheer an der Newa zurückgeschlagen hat. (Daher der Beiname „Newski“.) Russland ist damals schon durch die Invasion der Mongolen (1237-1240) geschwächt. 1242 gewinnen die Nowgoroder unter Newskis Führung die Entscheidungsschlacht auf dem Eis des zugefrorenen Peipussees. Dank erfolgreicher Abwehr der Invasoren gilt Newski als russischer Nationalheld und Heiliger der russisch-orthodoxen Kirche. Eisensteins Film stellte sichtbare (a-historische) Analogien zwischen den Kreuzrittern und dem nationalsozialistischen Deutschland her. Nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 1939 verschwand der Film erst einmal aus den Kinos; nach dessen Bruch durch Hitler 1941 eignete er sich aber um so besser für die antideutsche Propaganda. Die Filmmusik wurde im Rundfunk gespielt und zum Teil in das Gesangsrepertoire der Roten Armee übernommen. Prokofjiew selbst hatte in der Zwischenzeit eine Konzertfassung hergestellt und die 21 Episoden des Films zu sieben Sätzen zu einer „Kantate für Mezzosopran, Chor und Orchester op. 78“ unter dem beibehaltenen Titel „Alexander Newski“ umgearbeitet.

Die Aufführung der Kantate bot neben einem aufschlussreichen Blick in die russische Geschichte und Erinnerungskultur nicht nur ein Wiedersehen mit der Mezzosopranistin Sanja Anastasia, die 2011 – 2013 als Ensemblemitglied am Mainzer Staatstheater einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen hatte, sondern auch ein prägnantes Beispiel für eine hervorragend gemachte, wirkungsvolle Filmmusik. Der 1., rein instrumentale Satz schildert in unheilschwangeren Tönen das von den Mongolen verwüstete Russland. Im 2. Satz beschwört der Chor zunächst hymnisch in einer volksliedartigen Melodie den errungenen Sieg über die Schweden und ruft dann in martialischen Einwürfen zum Kampf gegen die Kreuzritter auf. Choralartiger Gesang beschreibt im 3. Satz die Gräueltaten der Kreuzritter, die durch scheidende und verzerrende Blechbläserpartien verdeutlicht werden. Auch eine „dies-irae“-artige Melodie klingt in Posaune und Tuba an. Der 4. Satz ruft zur Gegenwehr auf; ein gefühlvoller, fast sentimentaler Mittelteil mit Streicherbegleitung ist von aufpeitschendem Gesängen eingerahmt, deren Wirkung Bläser und Schlagwerk verstärken; auffällig sind hier rasante Solopassagen des Xylophons. Sägeartig knirschende Streicher markieren zu Beginn des 5. Satzes den zugefrorenen Peipus-See, und man fragt sich, ob der Komponist den Beginn des „Winters“ aus Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ gekannt hat. (Die Vivaldi-Renaissance nahm erst in den 1930er Jahren ihren Anfang.) Es folgt ein rasantes, wildes  orchestrales  Schlachtengemälde, bei dem (pseudo-lateinischer) Choralgesang der Kreuzritter auf den Widerstand russischer Folkloregesänge trifft und ihnen schließlich unterliegt. Der vorletzte Satz widmet sich den Opfern: Eine Frau schreitet auf der Suche nach ihrem gefallenen  Geliebten über das leichenübersäte Schlachtfeld und beklagt die Toten. Dass Sanja Anastasia dabei tatsächlich langsam über die Bühne geht, hilft, sich diese wichtige Szene vorzustellen, bevor die Kantate mit einem gewaltigen Hymnus auf Alexander Newski schließt; dass der Frauenchor zwischendurch auch einmal leise singen darf, wirkt dabei als angenehmer Kontrast.

Andreas Hauff

 

 

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