Ein Traum, von Ironie umfangen: Szene aus „Märchen im Grand-Hotel“ in Mainz. Foto: Andreas Etter
MAINZ: MÄRCHEN IM GRAND-HOTEL von Paul Abraham – szenische deutsche Erstaufführung
am 3.12.2018 (Werner Häußner)
Mainz war schnell: Kaum hatte Paul Abrahams 1934 entstandene Operette „Märchen im Grand-Hotel“ an der Komischen Oper Berlin ihre semi-konzertante deutsche Erstaufführung erlebt, war das Staatstheater am Start: Kein Jahr später rauscht jetzt der einstige Erfolg, der wegen brauner Verunklarung in Deutschland und ab 1938 auch in Österreich und der Tschechoslowakei nicht mehr gezeigt werden durfte, erstmals in Deutschland voll szenisch ausgearbeitet über die Bühne. Und bestätigt, was sich in Berlin schon abgezeichnet hatte: Operette braucht die Illusionsmaschine prallen Theaters, um ihre volle Wirkung zu entfalten.
Damit Satirisches wie Sentimentales auch sitzt, hat Mainz das Team Peter Jordan und Leonhard Koppelmann verpflichtet, zwei Routiniers des Komödienfachs, die bereits Ralph Benatzkys „Weißes Rössl“ präsentiert hatten. Sie füttern die Dialoge der Operettenspezialisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda mit aktuellen Bonmots auf, ohne dem Text zu viel Gewalt anzutun, blasen das Stück aber auf über drei Stunden Dauer auf – zu viele Spielflussbremser für die Story der Romanzen, die eine hochadlige spanische Infantin und einen tolpatschigen Kellner, einen Wiener Prinzen und eine amerikanische Filmmogultochter zusammenbringen.
Zumal sich Jordan/Koppelmann nicht auf die Kardinaltugend aller Regisseure im komischen Fach besinnen wollen: Weniger ist mehr, und wenn die Slapstick-Effekte, die gedrechselt überdrehten Bewegungen, Gesten und Grimassen, die Gags und Kalauer, die affektiert ausgestellten Emotionen und die völlig ausgerasteten Dialoge überhand nehmen, stumpfen sie das Interesse ab, werden langatmig und lassen die Charaktere statt witzig oder grotesk nur unglaubwürdig und nervig werden. Die Menge macht das Gift, und das Regieteam füttert das Publikum mit einer so gut gemeinten Überdosierung, dass die genussreiche Digestion durch erhebliches Grimmen des Lachzentrums ersetzt wird.
Dabei ist die Grundidee durchaus gelungen: Die Bühne von Christoph Schubiger zeigt zunächst einen gesichtslosen Aufbau, der erst durch Projektionen (Stefan Bischoff) zum Schauplatz wird: ein luxuriöses Büro, nostalgische Reiseplakate, durch naive Tricks filmisch belebt, oder eine mondäne Hotelhalle. Doch die virtuellen Realitäten setzen sich in den Raum der Bühne fort: Das elegante Treppenhaus materialisiert sich als bespielbare Stiege, auf dem ein Vokalquartett á la Comedian Harmonists als running gag immer wieder Melodien mit „Pam-pam-pam“ wie Loriots Männerchor-Männchen vorträgt. Und auf dem Plüsch der Möblierung lässt sich Platz nehmen, wenn sie wie die Ausstattung im Fernsehstudio mitsamt den Darstellern hereingerollt wird.
Das Leben – ein Traum, die Geschichte – eine Illusion, die Gefühle – bloße Projektion. Die Ebene der vermittelten Realität, eine romantische und eine moderne Metapher, funktioniert bestens. Der Film, damals die neueste mediale Illusionsfabrik, und das Hotel, der magische Brennpunkt eines von den einen erträumten, von den anderen in weltfernem Luxus verbrachten Daseins, gehen eine komplexe Symbiose ein. Von Anfang an wird klargemacht, was Paul Abrahams Operette erst am Ende enthüllt: Es geht um einen Film, dessen Vorspann schon die erste Szene auf der Bühne begleitet.
Was geschickt in der Schwebe bleibt, ist die Frage, wie weit uns „Universal Star Pictures“ in allem, was wir sehen, nur eine synthetische Realität vorspielt. Und inwieweit die Menschen auf der Bühne sich selber verkörpern oder nur sich selber spielen. Die Ambivalenz einer als real empfundenen Fiktion und einer ins „Gemachte“ abgleitenden Realität funktioniert und lässt Abrahams Operette in einer Zeit, in der eine hochtechnisierte Brille reicht, um in eine nahezu perfekte künstliche Welt abzudriften, erstaunlich aktuell werden.
Barbara Aigners Kostüme spiegeln die luxuriöse Vergnügungswelt der dreißiger Jahre, aber auch den leicht angestaubten Glanz vergangener Monarchien. Sie setzt die Übertreibung so dezent ein, dass sie witzig, aber nicht aufdringlich wirkt, etwa, wenn die Gefolgsleute des gnadenlos brüllenden und greinenden Filmproduzenten Sam Makintosh (Murat Yeginer) von John-Lennon-Pilzkopf und Brille bis zum übergewichtigen, rothaarigen irischen Einwanderer oder den Spießer im Karo-Pullover auf anglo-amerikanische Typen anspielen. Die adligen Herrschaften sind so glanzvoll gekleidet, die Pracht wird so hemmungslos ausgestellt, dass die Eleganz zur Staffage abgleitet und herrlich amüsanten Effekt bereitet.
Die Regie unterstützt diesen Zug ins Groteske und veralbert die Operetten-Sentimentalitäten ums blaue Blut gründlich als Teil einer umfassenden Illusions-Fabrik. Jennifer Panara hat bei ihrem Auftritt als Infantin den besten Moment, wenn sie gesteht, sie wäre so gerne Königin auf einem gold’nen Thron, lässt aber hinter der Fassade der distinguierten Dame durchscheinen, dass sie auch gerne einmal so richtig ausgelassen sein möchte. Michael Dahmen kann – anders als Max Hopp an der Komischen Oper – tenoral schmachten, leiden und locken. Sein Tangolied „Die schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ balanciert genau auf der Trennlinie triefenden Sentiments und ironischer Süffisanz. Stimmlich präsent und als Darsteller ein herrlicher Filou: Johannes Mayers Prinz Andreas Stephan mit weichem österreichischem Akzent.
Die Marylou Nini Stadlmanns, die sich selbstbewusst „ihren Film vom richtigen Leben kurbeln lassen“ will, setzt flinke Stepschritte, lange Beine, goldene Locken und einen roten Kussmund ein, um Männer mit solchen primären Locksignalen genau dahin zu manövrieren, wo sie sie haben will. Während sie – ohne Opernstimme – besser verstärkt wird, sind die Mikroports bei anderen Darstellern lästige Stimmvergrößerer – eine Mode, die sich in der Operette leider immer mehr durchsetzt. Dass Artikulation, Verständlichkeit und stimmlicher Schliff damit nicht gehobener werden, zeigt Anika Baumann als grotesk überdrehte Gräfin Ramirez: eine potenzierte „komische Alte“. Auch von ihrem pseudospanischen Geschnatter gilt: Maßvoll wäre es genussreicher goutierbar. Lorenz Klee, der voluminöse, goldbetresste Großfürst, und Henner Momann, mal tattriger Haudegen, mal Zofe en travestie, wirken vor allem durch ihre Erscheinung.
Samuel Hogarth garantiert am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz und als Barpianist auf der Bühne für einen stilistisch sorgfältig erarbeiteten Zugriff auf Paul Abrahams mitreißende Musik. Zwar zündet keiner der Schlager beim ersten Hören, aber beim zweiten Mal gehen die Melodien ins Ohr und zu Herzen. Der rhythmische Reiz der Modetänze lässt nicht kalt – ob mit Bravour quick gestept wird oder beim Tango die falsche Träne glitzert. Wie Hogarth die Farben der Instrumente ausbalanciert, wie er Details – wie die nach Original-Vorbild mit selbstgebauten Megaphonen verstärkten Klarinetten – hervorhebt, wie er die Melodien phrasiert und das Metrum pointiert gestaltet, zeigt treffsicheren Geschmack. Ähnlich wie mit Abrahams anderer Hotel-Operette „Ball im Savoy“ könnte auch mit dieser Entdeckung ein Märchen wahr werden – das einer Renaissance eines köstlich-frechen Stücks Musiktheater aus einer bis heute aufwühlenden Zeit des 20. Jahrhunderts.
Werner Häußner