Mainz: „Musik nach Bildern“ – Leibniz-Zentrum für Archäologie -10.3.2023
Liszt. Zichy jpg
Bemerkenswerte Findigkeit legt das Staatstheater Mainz in den letzten Jahren beim Erschließen neuer Räumlichkeiten für Theater und Konzert an den Tag. Eine dieser Entdeckungen war zuletzt der Neubau für das ehemalige Römisch-Germanische Zentralmuseum (RGZM), nunmehr Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA), am südlichen Ende der Mainzer Altstadt. Gut zwei Wochen vor dessen offizieller Eröffnung nutzt das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter GMD Hermann Bäumer den Vortragssaal nun für ein besonderes Programm „Musik nach Bildern“. Die räumliche Anordnung ermöglicht ein ungewöhnliches Konzerterlebnis: Das Orchester spielt „unsichtbar“ im Obergeschoss, während fürs Publikum zu ebener Erde die dazu gehörigen Bilder an eine weiße Wand projiziert werden. Den Titel des Abends „nach Bildern“ kann man unterschiedlich verstehen: Entweder so, dass die Musik das Bild getreu nachzeichnet, oder so, dass das Bild lediglich den Anstoß gab für eine kompositorische Idee. Bäumer lädt in seiner kurzen Eröffnungsansprache dazu ein, sich ohne die optische Ablenkung durch das Orchester „in das Bild zu versenken“. Dass der GMD wieder einmal Raritäten des Konzertbetriebs ausgewählt hat, macht natürlich besonders neugierig.
Franz Listzs sinfonische Dichtung „Von der Wiege bis zum Grabe“, seine 13., ist ein kompositorischer Nachzügler aus den Jahren 1881/82 von eher stillem Charakter. Inspiriert wurde sie durch eine Zeichnung des ungarischen Malers Mihály Zichy (1827-1906), die dieser „Du Berceau jusqu’au cercueil“ („Von der Wiege bis zum Sarg“) betitelt hatte. Sie zeigt eine von Engelsfiguren umschwebte Allegorie der Musik, die eine antike Leier und eine moderne Violine bei sich hat. Als Miniatur ist links unten eine Mutter mit einem Kleinkind in den Armen zu erkennen; rechts unten finden wir einen Sarg mit Kandelabern und trauernden Personen. Auf einem gewundenen Band steht der Originaltitel der Zeichnung. Liszt hat ihn abgewandelt und „Sarg“ durch das metaphorisch gemeinte „Grab“ ersetzt. Seine Musik hat er in drei Sätze gegliedert: „Die Wiege“, „Der Kampf ums Dasein“, und „Zum Grabe: Die Wiege des zukünftigen Lebens“. Leider beginnt das Orchester im LEIZA schon zu spielen, bevor die Regie das Bild einblendet; vom Inspirationsvorgang her müsste es umgekehrt sein. Atmosphärisch gibt es indessen eine klare Korrespondenz: Die in den zarten musikalischen Verlauf eingebettete sanfte Schaukelbewegung passt eindeutig zu Mutter und Kind – wobei die Musik kein Idyll zeichnet, sondern eher grüblerisch anmutet. Technisch ist die Bildprojektion noch nicht optimal gelöst. Der untere Bildrand ist weitgehend durch die Köpfe der Zuschauer in der Vorderreihe verdeckt, und die linke untere Bildecke wirkt durchweg leicht überbelichtet.
Ziemlich rätselhaft ist, wie Liszt auf den darwinistisch geprägten Satztitel „Der Kampf ums Dasein“ kam, für den sich auf der Zeichnung kein Anhaltspunkt findet. Ein aggressives „Agitato rapido“-Motiv und eine sanfte Streicherpassage werden hier mehrmals schroff gegenübergestellt und dann auch kombiniert, ohne dass, wie die Tradition es seit Beethoven will, der Konflikt wirklich gelöst wird. Schneller als erwartet setzt der 3. Satz mit einem schmerzhaften, eigenartig absteigenden Unisono-Thema ein, das im stark dissonant wirkenden Tritonus-Abstand wiederholt wird. In der Fortspinnung häufen sich freundliche, hoffnungsvolle Anklänge an die beiden ersten Sätze, und das Werk klingt aus wie mit einer offenen Frage. Hat Liszt womöglich den „Kampf ums Dasein“ autobiographisch verstanden – als Spiegelung seiner widersprüchlichen Komponisten-Biographie? Ausdrucksvoll und feinsinnig klingt die Musik von oben herab und lässt den Hörer nachsinnen.
Dass Willem Mengelberg (1871-1951), der bedeutende (und für seinen Einsatz zugunsten Gustav Mahlers besonders bekannte) niederländische Dirigent, überhaupt komponiert hat, diese Erkenntnis verdankt das Publikum einmal mehr der Entdeckungslust von GMD Bäumer. Mengelbergs „Improvisationen über eine Original-Melodie zu Radierungen von Rembrandt“ entstanden 1906 anlässlich der ausgedehnten Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag des Malers Rembrandt von Rijn, der in den Niederlanden zu einer Art Nationalheiligen hochstilisiert wurde. (Der niederländische Satiriker und Cartoonist Albert Hahn glossierte den Rummel mit den Worten: „Mit Rembrandt-Hut auf Rembrandt-Locken, an meinen Waden Rembrandt-Socken“.) Bei einem Kulturabend in der Amsterdamer Stadsschouwburg am 16.7. 1906 erklangen ausschließlich niederländische Werke: Unter anderem der dritte Akt des Dramas „Joseph in Dotan“ des Dichters Joost van den Vondel (1587-1679), die (nach Rembrandts Ehefrau benannte) Konzertouvertüre „Saskia“ von Bernard Zweers (1854-1924) sowie zwei sinfonische Dichtungen, „Rembrandt“ von Zweers und „Saul en David“ von Johan Wagenaar (1862-1941). Mengelbergs „Improvisationen“ begleiteten die Projektion von 20 Rembrandt-Radierungen; der eigenartige Werktitel für ein in Partitur notiertes Werk sollte wohl deutlich machen, dass hier tatsächlich die Bilder im Vordergrund standen und nicht die Musik. Mengelbergs Verlag Donemus vermerkt zudem, der Komponist habe die Musik in der kurzen Frist von zwei Wochen zusammengestellt; möglicherweise wollte er mit dem Etikett „Improvisationen“ auch die Erwartungen an die sinfonische Durcharbeitung dämpfen.
Fraglich bleibt (auch nach einiger Recherche), welche Original-Melodie ihm als Vorlage gedient hat. Ist es der Ausschnitt aus dem 2. Satz von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1, der gegen Ende herauszuhören ist , oder doch noch etwas anderes, das die Musikwissenschaft noch nicht ermittelt hat? Anklänge an Mahler finden sich oft, besonders gegen Ende, und meist wirken sie wie selbstverständlich hingeworfen. Bei den detailreichen Bildern ist neben der künstlerischen Qualität auch die gewählte Abfolge bemerkenswert. Auf dem Mainzer Programmzettel steht zwar, die 20 Radierungen folgten grob der biblischen Reihenfolge, aber eigentlich erstaunen eher die Abweichungen – wie die Einbettung der neutestamentlichen Szene „Petrus und Johannes an der schönen Tür des Tempels“ in einen alttestamentarischen Zusammenhang, die Platzierung der nachösterlichen Begegnung „Christus in Emmaus“ vor die zwei Kreuzigungsszenen, oder das Ende mit der Folge „Der verlorene Sohn“, „Christus, die Kranken heilend“ und „Tod der Maria“. Ob die Anordnung nach kunsthistorischen Kriterien, nach theologischen oder gar nach musikalischen erfolgte, wäre interessant zu wissen. Tatsache jedenfalls ist, dass Mengelbergs Musik sich nicht in kleinteilige Illustrationen hineinsteigert, sondern einen größeren Spannungsbogen schafft, bei dem auch mehrere Bilder zu einem klanglichen Stimmungsbild zusammengefasst werden. Hier wäre es tatsächlich lohnend, sich die Zeichnungen als solche noch einmal in Ruhe anzusehen, um dann zu untersuchen, wie Mengelberg sie mit sinfonischen Mitteln deutet. (Im Internet findet sich übrigens eine Aufnahme des Werkes mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln unter Jaap van Zweden, bei der die Radierungen eingeblendet werden. Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=sF_BerImbkI .)
Max Reger (1873-1916), dessen Geburtstag sich am 19.3. dieses Jahres zum 150. Mal jährt, schrieb 1913 „Vier Tondichtungen für großes Orchester nach Arnold Böcklin“ als „späten Ausflug in die Programmmusik.“ Hier, an Ort und Stelle in Mainz, entwickelt die Kombination von Bild und Ton erstaunlich wenig Ausstrahlung. Ziemlich schnell wird deutlich, dass die Bilder „Der geigende Eremit“, „Im Spiel der Wellen“, „Die Toteninsel“ und „Bacchanal“ nur den Anstoß zur Komposition gegeben haben können; sie sind allesamt Momentaufnahmen. Reger hingegen malt im besseren Falle ganze Szenen – das Ehrfurcht erweckende Geigenspiel des Eremiten und die Überfahrt zur Toteninsel mit ihrem gefühlsmäßigen Zwielicht – , die den bildnerischen Anfangsimpuls hinter sich lassen. „Spiel der Wellen“ und „Bacchanal“ bleiben bei allem orchestralem und satztechnischen Aufwand atmosphärisch ohnehin blass. Letzteres ist, wie Alfred Beaujean 1989 im „Lexikon Orchestermusik“ treffend schrieb, „von etwas angestrengter Aufgeräumtheit“; ersterem geht es „weniger um das Stimmungshafte als vielmehr um die tänzerisch sinnfällige Bewegung, um dynamische Kontrastsetzung“. Merkwürdig, dass das erschreckte Aufblicken einer Meerjungfrau in Regers Musik so gar kein Echo findet! Hermann Bäumers freundliche Einladung zum allgemeinen Nachgespräch bei einem Glas Wein nehmen wir nicht an; schließlich gilt es für den Rezensenten, die vielfältigen Eindrücke frisch im Kopf zu behalten. Außerdem ist die Kantine des LEIZA ein denkbar nüchterner, ungemütlicher Ort. Hoffen wir auf die Wiederholung eines derartigen Experiments an anderer Stelle!
Andreas Hauff