MAINZ, Dom St. Martin: Sinfoniekonzert Nr. 9 (Abschied von GMD Hartmut Bäumer mit Messiaens „Éclairs sur L’Au-delà“) 15.06.2025
Hartmut Bäumer und sein Orchester. Foto: Anneliese Schürer
14 Jahre lang hat GMD Hartmut Bäumer das Philharmonische Staatsorchester Mainz geleitet; sein letztes Sinfoniekonzert dirigiert er nicht im Staatstheater, sondern 300 m weiter im Dom St. Martin , wo jedes Jahr eines der neun Abonnementskonzerte stattgefunden hat – in der Regel im Zusammenwirken des Orchesters mit den Chören am Dom. Mit „Éclairs sur L’Au-delà“ („Streiflichter über das Jenseits“) aus dem Jahr 1992 von Olivier Messiaen (1908-1992) steht nun ein reines Instrumentalwerk auf dem Programm. Das monumentale Stück, ein Kompositionsauftrag zum 150-jährigen Jubiläum des New York Philharmonic Orchestra, ist das letzte Werk, das der Komponist abschließen konnte; uraufgeführt wurde es erst ein halbes Jahr nach seinem Tod. Mit dieser Werkauswahl beweist Bäumer einmal mehr seinen Sinn für Symbolik und übergreifende Programmgestaltung: Seine letzte Mainzer Spielzeit hat er im September 2024 mit Gustav Mahlers letzter vollendeter Sinfonie, also der 9., begonnen, und seine allererste Mainzer Spielzeit 2011 mit Messiaens großer „Turangalila-Sinfonie“ von 1946-48 eröffnet. Der Dom ist nahezu ausverkauft. Wie Domkapellmeister Karsten Storck in einer kurzen Ansprache erwähnt, sitzen zahlreiche Mitglieder der Chöre am Dom im Publikum. Storck verabschiedet den scheidenden GMD und dankt ihm unter anderem für den „Umgang mit uns Sängern“– wertschätzend und auf Augenhöhe – und für die nachhaltig mit sprachlichen Vergleichen aus nicht-künstlerischen Disziplinen garnierte Probenarbeit.
Der besonderen Situation im Dom geschuldet, entfällt leider die übliche Konzert-Einführung. Es wäre interessant gewesen, Bäumers handfeste Erläuterungen zu „Éclairs sur L’Au-delà“ zu hören, denn es handelt sich um kein liturgisches Werk, dem man einen Platz im Gottesdienst zuordnen könnte, sondern laut Messiaen, um „religiöse Musik, die an alle Zeiten und an alle Orte reicht, an das Materielle ebenso wie an das Spirituelle rührt und schließlich Gott überall findet […] auf unserem Erdenplaneten, in unseren Gebirgen, Ozeanen, inmitten von Vögeln, Blumen, Bäumen, Pflanzen und auch in dem sichtbaren Universum der Sterne, die uns umgeben“. Inspiriert von der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments, setzt der Komponist religiöse Visionen von der Ewigkeit und vom Ende der Zeiten in Klang um. Das aufschlussreiche Programmheft von Elena Garcia Fernandez zitiert Yvonne Loriod (1924-2010), Messiaens Witwe und bedeutende Interpretin, die von einer „Überlagerung der Zeiten“ spricht – „die der sich drehenden Planeten, die der singenden Vögel, die des Menschen, der seinen Durst nach Gott herausschreit.“
Man kann diese drei Aspekte (oder „Streiflichter“) in den Überschriften der elf Einzelsätze herauslesen: 1. „Erscheinung des verklärten Christus“, 2. „Das Sternbild des Schützen,
- „Der Prachtleierschwanz und die bräutliche Stadt“, 4. „Die mit dem Siegel gekennzeichneten Auserwählten“, 5. „In der Liebe verbleiben“, 6. „Die sieben Engel mit den sieben Posaunen“, 7.
„Und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“, 8. „Die Sterne und die Herrlichkeit“, 9.
„Mehrere Vögel der Bäume des Lebens“, 10. „Der Weg des Unsichtbaren“ 11. „Christus, Licht des Paradieses“. Wie kommen Vögel, insbesondere der Prachtleierschwanz, in die Musik und in die Satztitel? Olivier Messiaen war nicht nur Komponist, sondern auch ein begeisterter und kompetenter Ornithologe. Sein einstiger Kompositionsschüler Michael Stegemann, heute Professor für Musikwissenschaft in Dortmund, erinnert sich an einen jährlichen Pflichttermin: „Morgens um vier mussten wir mit Messiaen in den Bois de Boulogne, dann hat er mit der Klasse das Erwachen der Vögel verfolgt und kommentiert.“ Messiaens Interesse an Vögeln führte ihn weit über die Pariser Umgebung hinaus. Den Prachtleierschwanz, der für seine außergewöhnliche stimmliche Begabung und für sein hervorragendes Gehör bekannt ist, lernte er in Australien kennen. Den modernen, an Lärm und Technik gewöhnten Großstadtmenschen mag diese Leidenschaft befremden. Doch spätestens nach der Entdeckung der über 40000 Jahre alten Steinzeiten-Flöten auf der Schwäbischen Alb, auf denen sich Vogelstimmen imitieren lassen, dürfte klar sein, dass sich Messiaen eine ganz ursprüngliche Faszination für diese gefiederten Wesen bewahrt hat, die nicht nur singen, sondern sich auch fliegend zum Himmel erheben können.
Hartmut Bäumer und sein Orchester. Foto: Anneliese Schürer
Sieben der elf Sätze in „Éclairs sur L’Au-delà“ zitieren Vogelstimmen; das Programmheft benennt diese im Einzelnen. Im 9. Satz sind es 24 Arten die von 18 Holzbläsern gespielt werden. Hier scheint es, als ob sich der Westchor des Martinsdomes, vor dem die Musikerinnen und Musiker platziert sind, in eine einzige große Voliere verwandelt. Im starken Kontrast zu diesen filigranen Stimmen stehen die gewaltigen, vom Blech geführten Bläserchoräle, die das Werk von Anfang an durchziehen und sich bisweilen zu einschüchternder Größe auftürmen. Ein weiteres zentrales Element ist die Musik der Sterne, die sich mit der optischen Vorstellung von Glanz verknüpft. Sie ist wesentlichen von Holzbläsern und hellem Schlagwerk getragen. Man wird schwerlich ein Musikstück finden, in dem die mehrfach besetzte Triangel eine derart große Rolle spielt. Zehn Schlagzeuger fordert Messiaen in seiner Partitur, und auf der obersten Stufe zum Westchor sind sie alle gut sichtbar. Und so hört man nicht nur, sondern sieht auch, dass diese Sternenmusik neben freundlicher Helligkeit auch etwas Gewaltiges, Einschüchterndes hat: Immer wieder grollt die Große Trommel, knallt die Peitsche, manchmal tritt die Windmaschine in Aktion. Sanft, fast romantisch kontrastiert dagegen der Klang der Streicher – ganz ungestört im 5. Satz. Insgesamt verlangt die Partitur 128 Mitwirkende; ganz so viele sind es hier nicht. Das Programmheft spricht von „über 100 Instrumenten“, die vor allem der beeindruckenden Ausweitung des Klangfarben-Spektrums dienen.
Messiaen war ein Synästhetiker, der Musik mit Farbeindrücken verband. Details der Instrumentation waren für ihn ungeheuer wichtig und reizvoll. Einem Hörer wie dem Rezensenten, dem diese Fähigkeit abgeht, mag die Musik von „Éclairs sur L’Au-delà“ zeitweise etwas statisch vorkommen, wie ein erratischer Block. Sie hat aber unbedingt den Vorteil, dass sie der Akustik des Mainzer Doms entgegenkommt. Der starke Nachhall, der sich im Kirchenschiff entwickelt, mindert die Wirkung nur wenig, zumal der GMD mit dem Orchester für möglichst klare Konturen sorgt. Zwei Sätze gibt es allerdings, in denen sich eine deutliche Entwicklung vollzieht. Im 8. Satz, der modernen Version einer Vision, die Christian Fürchtegott Gellert 1757 in die Worte fasste „Die Himmel rühmen des Himmlischen Ehre“, entfaltet Messiaen räumliche Wirkungen und Kontraste, die am Ende in einen gemeinsamen Choral des gesamten Kosmos zu münden scheinen. Und im 10. Satz spürt man deutlich den in der zugrundeliegenden Bibelstelle (Johannes 14,5-6) angelegten Zwiespalt zwischen der Frage des verunsicherten Jüngers Thomas nach dem Weg und der glaubensstarken Antwort seines Meisters. Nervös illustrieren die Streicher die Unsicherheit („Wie sollen wir dann den Weg kennen?“); am Ende beruhigen sie sich und stimmen ein in die Zuversicht der Bläser („Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben …“).
Messiaens feste christliche Glaubensgewissheit ist sicher nicht jedermanns Sache, aber die Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in der Ewigkeit bleibt nachvollziehbar – erst recht auf dem Hintergrund der aufbrechenden kriegerischen Gewalt, mit der mächtige Männer derzeit die Völker heimsuchen. Was zählt ein einzelnes Menschenleben da noch? Wohltuend wirkt jedenfalls die kleine, aber wirkungsvolle Geste der Wertschätzung, mit der sich GMD Bäumer unter den stehenden Ovationen des Publikums verabschiedet: Er überreicht jedem einzelnen Mitglied des Orchesters eine Rose.
Andreas Hauff