Mainz: 7. Sinfoniekonzert (mit zwei Raritäten und zwei Debüts) 12.4.2025
Marzena Diakun. Copyright: Marco Borggreve
Wieder einmal ein Programm, das neugierig macht! Beim 7. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz stehen zwei seltene Werke der klassischen Moderne auf dem Programm: Das Konzert für Violine und Orchester op. 15 von Benjamin Britten und die Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 von Dmitri Schostakowitsch. Zugleich sind zwei bemerkenswerte Musikerinnen bei ihrem Mainzer Debüt zu erleben. Den Violinpart bei Britten spielt Liza Ferschtmann (Jg. 1979), eine ausgezeichnete niederländische Geigerin, die in ihrer Heimat großes Ansehen genießt und im deutschsprachigen Raum sicher mehr Beachtung verdient hätte. Und am Pult steht Marzena Diakun (Jg.1981). Die polnische Dirigentin wird zur Saison 2026/27 die Chefdirigenten-Position der Rheinischen Philharmonie im benachbarten Koblenz (100 km rheinaufwärts) übernehmen; ihre Probedirigate dort haben, wie man hört, großen Eindruck hinterlassen.
Liza Ferschtmann. Copyright: Marco Borggreve
In der Mainzer Konzerteinführung mit Dramaturgin Sonja Westerbeck gibt Diakun bereitwillig Auskunft über ihren Berufsweg. Das Sinfonieorchester und das Dirigieren faszinierten sie schon während ihrer Kindheit in Kozsalin (Küslin), auch wenn die Eltern zunächst andere Vorstellungen hatten. “Ich konnte nicht ohne Musik leben.” Sie studierte an der Musikakademie in Wroczlaw (Breslau), wo sie inzwischen selbst Chor- und Orchesterleitung unterrichtet. Als prägend erwähnt sie ihren Studienaufhalt in Wien, bei dem sie zahlreiche berühmte Orchester und Dirigenten erleben durfte. Das Mainzer Orchester habe sich bei der Probenarbeit als sehr freundlich und aufgeschlossen erwiesen. Von den beiden Werken des Abends hat sie eine klare Vorstellung und macht die Hörerschaft auf einige interessante Details aufmerksam. Ferschtmann, die sich auf ihren Auftritt vorbereitet, kann hier leider nicht dabei sein. Im Programmheft ist ihre Biographie abgedruckt. Sympathisch wirkt, dass sie nicht nur berufliche Stationen, sondern auch künstlerische und menschliche Vorbilder nennt.
Das passt zum Programm des Abends, denn für Brittens Violinkonzert braucht man wohl neben geigerischer Virtuosität auch einiges an Hintergrundwissen und Empathie. Der 1913 geborene Komponist schrieb es für den spanischen Geiger Antonio Brosa, mit dem er 1936 in Barcelona beim Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik seine Suite op. 6 für Klavier und Orchester uraufgeführt hatte. Nachhaltigen Eindruck auf ihn hatte dort auch die Weltpremiere von Alban Bergs Violinkonzert mit dem Geiger Louis Krasner hinterlassen. Drei Monate später begann der Spanische Bürgerkrieg. Als Britten im November 1938 die Arbeit an seinem Violinkonzert aufnahm, hatten sich die politischen Spannungen in Europa weiter verschärft. Zusammen mit seinem Freund und späteren Lebensgefährten Peter Pears, wie er erklärter Pazifist, reiste er im April 1939 nach Kanada und weiter in die USA, wo sie es beide – von Heimweh und künstlerischen Misserfolgen geplagt – nur bis April 1942 aushielten. Das Violinkonzert vollendete Britten im September 1939, kurz nach Hitlers Überfall auf Polen. Die Uraufführung fand 1940 in der New Yorker Carnegie Hall unter Sir John Barbirolli statt. Den Solopart konnte tatsächlich Antonio Brosa spielen, den die US-amerikanischen Behörden zunächst als verdächtigen Ausländer interniert hatten. Zehn Jahre später überarbeitete Britten das Werk – anscheinend vor allem, um den Solopart etwas zugänglicher für andere Geiger zu machen. Sonja Westerbeck resümiert im Mainzer Programmheft: „Obwohl es keinen direkten Kommentar von Britten über den außermusikalischen Gehalt seines Werkes gibt, scheint es doch, als spiegele die Sprache des Werks die Unsicherheit und Suche nach Orientierung in einer Zeit zerfallender Werte wider.“ Wohl nicht von ungefähr sucht Britten im 3. Satz eine stabile musikalische Basis in der Form einer Passacaglia, einer Gattung, die England als „variations upon a ground“ besonders populär war. Marzena Diakun macht im Einführungsgespräch aber auch auf die permanente, ungelöste Spannung zwischen D-Dur und d-moll in diesem Finale aufmerksam. „Jeder muss seine (eigene) Antwort finden in dieser Musik“, meint sie.
Eigenartig ist schon der 1. Satzes (Moderato con moto) mit leisem Paukensolo und Beckenschlag – weit weniger poetisch als der Einstieg in Beethovens Violinkonzert, wo den geheimnisvollen Paukenschlägen gleich eine warme Holzbläserkantilene folgt. Hier kommt es zwar auch schnell zu einem melodiösen Violinsolo, aber dazu gesellt sich sofort im Fagott wie ein penetrantes Störmanöver das Quartmotiv der Pauken – Symbol eines atmosphärischen Zwielichtes, das das gesamte Werk durchzieht. Später im ersten Satz ergehen sich die Streicher eine Weile in verzuckerter „Rosenkavalier“-Atmosphäre, und die Sologeige setzt das Quartmotiv ruppig dagegen. Letzteres scheint im gespenstischen-grotesken zweiten Satz (Vivace), den man ähnlich auch bei Schostakowitsch finden könnte, zunächst vergessen; schließlich taucht es aber in der ausgedehnten Solokadenz markant wieder auf. Liza Ferschtmann spielt angenehm unprätentiös und bewältigt dabei selbstverständlich die schwierigsten Stellen – bis hin zu Pizzicato-Einwürfen in ihr eigenes Kantilenenspiel bei der erwähnten Kadenz. Gerade da hinein mischen sich mit einer getragenen Linie abwärts die Posaunen, und düster und getragen beginnt der 3. Satz (Andante lento).
In einer älteren Kritik des Werkes las ich: „Das ganze Pathos wirkt wie auf eine harmlose Form bloß notdürftig aufgetackert, nicht mal sonderlich tragisch, einiges eher komisch“. Hier entsteht nun doch ein ganz anderer Gesamteindruck. Bei allen disparaten Einzelheiten und allen bewusst gesetzten Doppelbödigkeiten wirkt die Musik doch von einem klaren Energiestrom durchzogen, den die Solistin und das ausgezeichnet vorbereite Orchester gemeinsam tragen – so als gelte es zu zeigen, wie sich der einzelne Mensch in seiner Würde gegen widrige und widersprüchliche Zeitläufte behaupten kann. Nach stillem Ausklang bricht im Publikum ein Beifallssturm los. Kann man danach noch eine Zugabe bringen? Liza Ferschtmann findet eine unglaublich gute Lösung: Den 2. Satz („Schattentanz“) aus der Sonate Nr. 2 für Violine solo des belgischen Violinvirtuosen und Komponisten Eugène Ysaÿe (1858-1931). Das Stück ist nicht zu lang, virtuos und vielfältig in Spieltechnik und Ausdruck, im Anschluss an die Passacaglia nochmals eine Variationenfolge, dazu ernsthaft im Tonfall. Und doch spürt man ein leichtes Augenzwinkern, wenn die Solistin beim gezupften Variationenthema ihre Geige wie eine Gitarre vor den Bauch hält.
Dass Marzena Diakun ihre Gestik beim Dirigieren gut dosiert, spürt man schon zu Beginn von Brittens Konzert, wo sie Pauken und Becken effektiv, aber kaum sichtbar führt. Schostakowitschs 9. Sinfonie mit ihren zwischenzeitlichen Ausbrüchen ins Irrwitzige gibt ihr nun auch Gelegenheit zu Temperamentsausbrüchen mit raumgreifenden Aktionen und ganzkörperlichem Einsatz, die aber schnell wieder zurückgenommen werden, sobald es die Partitur verlangt. Es hat den Anschein, als ob sie die Musik mit ihren Armen und Händen formt, und es ist ein Vergnügen, dabei zuzusehen. Schon im Einführungsgespräch kommt zur Sprache, dass das 1945 uraufgeführte Werk nicht ohne den zeitgeschichtlichen und persönlichen Hintergrund zu verstehen ist. Schostakowitsch stand damals unter dem Druck des Stalin-Regimes, zur Feier des Kriegsendes ein triumphales Werk mit Chor und Orchester nach dem Modell von Beethovens 9. Sinfonie abzuliefern. Diesem Ansinnen entzog er sich recht geschickt in einer Mischung von klassizistischer Heiterkeit, echter Trauer und einigen bombastischen Passagen, die mit Witz in die Partitur für eine eher kleine sinfonische Besetzung hineinverwoben wurden. Wie im ersten Satz, der (ähnlich wie Prokofiews „Symphonie classique“) stark an Joseph Haydns Vorbild anknüpft, die Posaune immer wieder folgenlos zu einer großen Fanfare ansetzt, ist ein sinnfälliges Beispiel für die Doppelbödigkeit des Stückes. Sehr berührend wirken dann wiederum die ausgedehnte Fagottsoli im 4. Satz – auch wenn die Musikwissenschaft hier inzwischen ironische Anspielungen dechiffriert hat. Schostakowitsch lässt seinen Akt von Selbstbehauptung im 5. Satz in einen rasant triumphalen Zirkusmarsch münden. Doch bevor dieser noch irgendeinen patriotischen Taumel auslösen kann, ist die Sinfonie auch schon zu Ende. Schade eigentlich! Dem bestens aufgelegten Philharmonischen Staatsorchester mit seinen vielen schön ausgekosteten Solo-Einsätzen hätte man gerne noch länger zugehört.
Andreas Hauff