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MAINZ: 3. SINFONIEKONZERT – An der Grenze der Aufnahmefähigkeit

13.12.2016 | Konzert/Liederabende

Mainz: An der Grenze der Aufnahmefähigkeit. Das 3. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters 10.12.2016

 Auch in dieser Saison hat das Philharmonische Staatsorchester Mainz wieder ein Sonderkonzert „Auf Wiederhören!?“ mit aktueller Musik veranstaltet, an dessen Ende das Publikum sich für die Aufnahme eines der gespielten Werke ins reguläre Abonnementskonzert entscheiden durfte. Das „Rennen“ machte diesmal (in Konkurrenz mit Werken von György Kurtág, Péter Tornyai und Márton Illés“) das 2013 entstandene Stück „Vergessene Lieder“ des Schweizer Komponisten Nadir Vassena. Vassena (Jg. 1970) lebt und arbeitet in Lugano und lehrt auch am dortigen Konservatorium.

 Nun also beginnt damit das 3. Sinfoniekonzert im Großen Haus des Staatstheaters. Für ein neues Stück von 13 Minuten Länge ist das keine Ideal-Position, denn bis das Publikum sich „eingehört“ hat, ist die Musik schon wieder halb vorbei. Aber wo hätte GMD Hermann Bäumer das Werk sonst positionieren sollen? Etwa hinter Johannes Brahms‘ gewichtiges Klavierkonzert Nr. 1, oder vor die einstündige Musik Béla Bartóks zum Ballett „Der holzgeschnitte Prinz“? Gerne denke ich persönlich an die Saison 2009/2010 zurück, in der das Mainzer Orchester jedes Konzert mit einem der „18 Signale“ von Alois Bröder einleitete. Da waren  die Ohren schon wachgekitzelt, bevor es eigentlich losging.

 Zu denken gibt natürlich der Titel „Vergessene Lieder“. Auf die Frage nach einer konkreten Bedetung habe der Komponist vielsagend geschwiegen, weiß GMD Bäumer in seiner wie immer sehr engagierten Einführung zu berichten. So bleibt die Deutung dem Hörer überlassen. Konkrete Anspielungen, geschweige denn Zitate, habe ich nicht erkannt, aber doch eine Grundstimmung von Melancholie, die sich vor allem aus klagenden Halbtonschritten und einer schön ausgespielten elegischen Hornpassage herleitet. Annäherungen und Entfernungen rund um einen Zentralton, dynamische Hervorhebungen einzelner Instrumente im Gesamtklang, Naturtonintervalle jenseits der temperierten Stimmung und einzelne spätromantische Klanginseln runden diesen Gesamteindruck ab.

 Mit  Brahms‘ 1. Klavierkonzert gelingt dem Staatsorchester und dem Pianisten Herbert Schuch eine denkwürdige Interpretation. Schneidend bohrt sich das niederschmetternde Eingangsthema des  Orchesters in die Ohren, das so gar nicht nach Brahms klingt, eher nach Berlioz, Liszt oder Bruckner. Intensiv durchgehört ist schon der Übergang zum ersten Klaviereinsatz, in den die Pauken und Trompeten noch einige Takte düster hineinklingen – bis der Pianist sich freigespielt hat. Herbert Schuch spielt, als folge er seinem inneren Bewusstseinsstrom und es fiele ihm die Musik überhaupt erst beim Improvisieren ein. Manchmal scheint es dabei im Stimmungsgewitter, als hänge der Fortgang nur noch an einem seidenen Faden. Gefestigter wirkt das Adagio, für das sich der Pianist alle Zeit der Welt zu nehmen scheint – ohne dass darüber die Abstimmung mit dem Orchester litte. Virtuos zupackend kehrt er dann im Rondo die Stimmung um und verscheucht die bösen Gespenster; die bohrenden Triller des Anfangs kehren als folkloristische Ornamente wieder. Ein gewaltiger Spannungbogen für Ausführende und Hörer ist das, vor allem anfangs knapp vor dem Absturz!

 Vielen Brahms-Interpretationen fehlt es, wie der Dirigent Paavo Järvi (im Magazin 2016 der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen)  bemerkt, an emotionaler Qualität, weil „die Musiker sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen wollen, nichts wirklich riskieren wollen. Sie wollen dann eher die brillante Struktur bei Brahms zeigen. Und das geht meist zu Lasten des Erzählerischen.“ Hier ist das mit Sicherheit nicht der Fall. Es mag etwas pathetisch klingen, aber es ist, als blicke man in die ungeschützte Seele des seinerzeit 26-jährigen Komponisten – lange schwankend zwischen tiefer Niedergeschlagenheit, vorsichtiger Hoffnung und stiller Ergebung, am Ende sich aufraffend zu zupackender Selbstbehauptung. Man darf wohl vermuten, dass der Misserfolg der beiden ersten Aufführungen Brahms dazu brachte, vorsichtiger zu sein mit allzu ungeschützten Emotionen und sie künftig lieber diszipliniert in den Tiefenschichten seiner Musik zu verbergen. Das Mainzer Publikum jedenfalls zeigt sich beeindruckt und berührt und feiert den 37-jährigen Pianisten. Er spielt als Zugabe „Brouillards“ („Nebel“), ein kurzes Prélude von Claude Debussy. Mit seinen verschwimmenden Klängen, aus denen einzelne klarere Konturen herausragen, schließt es nicht nur atmosphärisch gut an, sondern leitet auch geschickt über zu den Klangwirkungen im zweiten Teil des Programms.

 Für Bartók bedeutete der Budapester Urauführungserfolg seines Ballett „Der holzgeschnitzte Prinz“ im Jahr 1917 einen kompositorischen Durchbruch. Béla Balázs‚ Märchen-Szenario erzählt von einem Prinzen und einer Prinzessin, die getrennt unter der Obhut einer Fee in einem geheimnisvollen Wald leben. Sie sind durch diesen Wald und einen Bach getrennt. Den verliebten Prinzen, der sich eigens zu ihr auf den mühsamen Weg macht,  übersieht die hochmütige Prinzessin. Doch sie findet Gefallen an der von ihm geschnitzten Holzfigur, der die Fee Leben eingehaucht hat. Erst als die Puppe reglos zusammensinkt, erwacht das Interesse der Prinzessin an dem echten Prinzen, und es ist nun an ihr, den mühsamen Weg zu überwinden. Doch erst als sie mit ihren Machtattributen auch ihren Hochmut ablegt, können die beiden zusammenfinden.

 Schon in der Konzert-Einführung wird deutlich, was Hermann Bäumer zur Wahl des Stückes veranlasst hat. Es ist einmal die Chance einer Mainzer Erstaufführung. Vor allem aber fasziniert ihn  die Musik – und das nicht nur wegen der großen spätromantischen Orchesterbesetzung und Bartóks einfallsreichem Umgang mit der instrumentalen Klangpalette, sondern auch wegen der symmetrischen Anlage des Werkes: Nach dem Höhepunkt, dem Pas de deux der Prinzessin mit der Holzfigur, wird der Hinweg sozusagen rückwärts wieder abgespult, allerdings mit deutlichen Modifikationen, die der veränderten dramatischen Situation geschuldet sind. Die Übergänge sind fließend, wie man es sich bei einem Handlungsballett gut vorstellen kann; deutliche Abgrenzungen gibt es nicht.

 Hier liegt dann aber auch das Problem der an sich glanzvollen Aufführung. Diese Musik ist für die Bühne geschrieben und nicht für den Konzertsaal, und je mehr der Hörer ihre szenische Kraft spürt, desto mehr sucht er sich das Bühnengeschehen vorzustellen. Dafür bietet aber das knappe Programmheft keine wirkliche Hilfe, und so finden weder das Ohr noch das innere Auge die nötigen Anhaltspunkte zum Verständnis. Nach der anspruchsvollen ersten Konzerthälfte werden es anstrengende 60 Minuten. Nicht ohne Grund hat Bartók aus seiner Ballettmusik eine Konzertsuite ausgegliedert.

 Das heißt nicht, dass man nicht auch die ganze Bühnenmusik konzertant spielen kann. Man könnte etwa per Übertitelung die Stationen der Handlung projizieren – oder im Programmheft das Szenario abdrucken und mit Hinweisen zur Musik ergänzen, man könnte einen Zeichentrick-Film drehen oder eine Computer-Animation entwickeln oder …. Nur müsste sich die Dramaturgie eben etwas einfallen lassen. So jedenfalls passt der Abend nicht in die sympathische Mainzer Linie, bei neuen Herausforderungen immer wieder bewusst auf die Hörer zuzugehen. Das ist schade, zumal an diesem Abend das Studierenden-Alter im Publikum auffallend gut vertreten ist.

Andreas Hauff

 

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