Mainz: 1. Sinfoniekonzert (Mahler, 9. Sinfonie, im Kulturaustausch mit Dijon)– 20.9.2024
Es gibt Konzertabende, die sich scharf einprägen. Das 1. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz in der neuen Saison dürfte dazugehören. Hermann Bäumer dirigierte die Sinfonie Nr. 9 von Gustav Mahler – sonst nichts! Ein anderer Konzertbesucher erinnerte sich 17 Jahre zurück: 2007 hatte Gastdirigent Peter Hirsch dasselbe Werk mit Bernd Alois Zimmermanns Stück „Stille und Umkehr“ kombiniert – ganz im Stil eines ernsten Novemberprogramms, das um Tod, Vergänglichkeit und Andenken kreiste. Soweit wollte der Mainzer GMD zur Saisoneröffnung wohl nicht gehen. Und außerdem war „Mahler alleine“ schon genug, wenn man der Konzerteinführung im Großen Haus des Staatstheaters folgte und im Anschluss das Nachgespräch im sogenannten Glashaus unter der Theaterkuppel verfolgte.
Die Mainzer Konzerteinführungen im Parkett des Großen Hauses sind in der Regel lohnend und gut besucht. (Erst recht, nachdem das vor einem Jahr neu eingeführte Kombi-Ticket einen Pausenimbiss mit Getränken zur Selbstbedienung beinhaltet und ein langes Anstehen und Bezahlen erspart.) Und bei Hermann Bäumer spürt man immer die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Werken; es gibt weder Konzertführer-Phrasen noch lange Exkurse in musiktheoretische Details zu hören; der GMD hat immer den interessierten Laien im Blick. An diesem Abend ist das besonders erfreulich, denn all zu leicht ergehen sich Einführungstexte zu Mahlers „9. Sinfonie“ in raunender Ehrfurcht einerseits und analytischem Klein-Klein andererseits. Für die erste Komponente haben natürlich Mahler selbst und Arnold Schönberg gesorgt mit der Vorstellung, seit Beethoven kämen große Komponisten nicht über die 9. Sinfonie hinaus für die zweite sorgt die traditionelle Fixierung der Musikwissenschaft auf die Partitur. Auf der Strecke bleibt dann oft die Einladung zum Zuhören.
Selten traut sich jemand, so zu schreiben, wie es Michael Stallknecht jüngst in der Neuen Zürcher Zeitung über den 2. Satz der Sinfonie in der Aufnahme von Philipp von Steinaecker und dem Mahler Academy Orchestra getan hat: „Denn hier geht es zu wie auf dem Münchner Oktoberfest, wenn schräge Volksmusik-Nachmittage ab dem fünften Liter Bier zur Orgie ausarten. Alles kreischt und kreist und tobt, die Klarinetten schrillen, das Cello taumelt dazwischen, eine einsame Posaune versucht auch ihr Glück.“ Bäumer zitiert Stallknechts Kritik, aber seine Aufführung behält doch noch etwas von kultiviertem Haydn’schem Witz oder von Strawinskys Lust an der Montage; dabei tritt das Grotesk-Komische klar hervor. Abe schon im 1. Satz wird deutlich, dass Mahler keinen geordneten musikalischen Ablauf komponiert. Ein wirkliches „Thema“ will sich gar nicht mehr entwickeln, sondern man hat den Eindruck, hier suche mühsam jemand einen roten Faden – zwischen Seufzern und Fanfaren, zwischen Trauermarsch-Anklängen und „Rosenkavalier“-Nostalgie, zwischen Leerlauf und zwanghafter Wiederholung.
Der 3. Satz, „Rondo-Burleske“ betitelt, hat etwas krampfhaft Bemühtes, wohl auch Doppelbödig-Ironisches wie man es später bei Schostakowitsch findet. Angestrengte Fugato-Partien münden in einen pathetischen Hymnus, der aufgesetzt wirkt und schnell wieder von hektischer Betriebsamkeit abgelöst wird. Erst im letzten Satz scheint die Musik wirklich zu sich zu kommen – auch wenn das Bruchstückhafte erst langsam überwunden wird und der Fortgang manchmal an einem seidenen Faden zu hängen scheint. (Wie Bäumer mit dem Orchester an diesen Stellen die Spannung hält, ist bewundernswert). Erstmals sorgen lange Streicherkantilenen für Wärme, und allmählich blenden sich auch die Bläser ein zu einer prachtvollen Steigerung. Deren zunehmend leiser Nachhall mündet in einen sehr stillen Schluss der Streicher. Im Programmheft ist er abgedruckt; „ersterbend“ steht unter dem letzten Akkord. „Die letzte Partiturseite dauert 5 Minuten“, heißt es in der Einführung, und sie ist, wie wir später im Nachgespräch erfahren, nach fast 80 Minuten für die Musikerinnen und Musiker normalerweise auch physisch sehr anstrengend. Hier ist das kaum zu spüren, und das Publikum honoriert das auskomponierte Verklingen mit aufmerksamer Stille. Der intensive und lange Applaus gilt sicher dem Gesamteindruck, aber auch den beeindruckenden solistischen Leistungen (bis hin zu einem ungewöhnlichen und markanten Kontrafagott-Solo im Finale).
Über 71,5 Stellen nur verfügt das vom Land Rheinland-Pfalz getragene Philharmonische Staatsorchester Mainz; dabei sind einige halbe Dienstpositionen, die die gemeinsame Arbeit nicht einfacher machen – Überbleibsel der sogenannten Orchesterstrukturreform von 2004 mit ihren weitreichenden Einsparungen. (Zwei zusätzliche Stellen sind jetzt, wie bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des künftigen Mainzer GMDs Gabriel Venzago zu erfahren war, im kommenden Landeshaushalt vorgesehen.) Auf der Bühne zähle ich aber (ohne den Dirigenten) 84 Personen. Darunter sind einige Gäste aus dem französischen Dijon, Mitglieder des Orchestre Dijon Bourgogne, die den Besuch einer Orchester-Delegation aus der Partnerstadt Mainz in der vergangenen Saison erwidern. (Damals hatten die Mainzer bei Beethovens 9. Sinfonie mitgespielt.) Wie wir beim Nachgespräch erfahren, ist die Delegation am Montag angereist und hat seitdem intensiv mitgeprobt. Floriane Cottet, die Orchestermanagerin, zeigt sich begeistert vom freundlichen Empfang und der angenehmen Arbeitsatmosphäre in Mainz. Die beiden anwesenden Orchestermitglieder schließen sich an.
Zur Aufführung berichtet Anne Mercier, die Primgeigerin, sie habe sich vom Dirigenten sehr gut getragen gefühlt und die körperliche Belastung in den Armen eigentlich gar nicht gespürt. Ihr Kollege, der Fagottist Christian Bouhey, ergänzt, Maestro Bäumer sei kein „chef à baguette“, ein Dirigent per Taktstock, sondern ein „chef à cœur“, ein Dirigent mit Herz. Bäumer selbst unterstreicht die Wichtigkeit der direkten Begegnung von Mensch zu Mensch angesichts der Kriege und nationalistischen Abgrenzungstendenzen in vielen Staaten. Auch die Landesregierung hat ein Signal gesetzt: Sowohl Katharina Binz, stellvertretende Ministerpräsidentin und Ministerin für Familie, Frauen, Kultur und Integration, als auch Kultur-Staatssekretär Prof. Jürgen Hardeck saßen an diesem Abend im Publikum.
Andreas Hauff