MAHLERMANIA – Neuerscheinungen
CD, Blu-Ray Gustav Mahler: 6. Symphonie – Abschiedskonzert mit SIR SIMON RATTLE als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker 20.6.2018, Debütkonzert Rattles vom 15.11.1987 mit derselben Symphonie – Berliner Philharmoniker Recordings
Einen phiharmonischen Klangrausch sondergleichen bescherten die Berliner Philharmoniker ihrem langjährigen Chefdirigenten bei jenen denkwürdigen Abschiedskonzerten in der Philharmonie am 19. und 20 Juni 2018. schon bei seinem Debütkonzert 30 Jahre vorher stand diese Symphonie auf dem Programm. 2002 tritt Rattle sein Amt als Chefdirigent bei den Berlinern mit Mahlers Fünfter an. Nun geht er als Chefdirigent zum London Symphony Orchestra, das er parallel schon seit der Spielzeit 2017/18 leitet.
Jetzt ist noch einmal nachzuprüfen, dass Rattle das Berliner Edelorchester auf dem denkbar höchstem Niveau, unangefochten an der Spitze aller deutschen Klangkörper stehend, hinterlässt. „Die Odyssee durch den Klangraum gestaltete sich wie ein Flug auf einer Umlaufbahn“ schreibt Frederik Hanssen im ausführlich bebilderten Booklet. Simon Rattle konnte den Karajan‘schen Luxussound bewahren und dennoch bei höherer Transparenz der Instrumentengruppen und stilistischer Diversifizierung des Klangs je nach Stück eine Modernisierung auch über die Ära Abbado hinaus erreichen. Der Vergleich der beiden Einspielungen dieser so erratischen Sechsten Mahlers aus den Jahren 1987 (eine exzellente rbb Aufnahme) und 2018 ergibt bei geringfügig längerer Spieldauer 2018 (82:15 zu 79:31) und überschwänglicherer Rhetorik 1987 dennoch ein konsistentes Mahler-Bild Rattles. Bei der Sechsten ist ja erwiesen, dass Autobiographisches nicht „programmbestimmend“ war. Muss denn überhaupt soviel über Außermusikalisches gerätselt und gedeutelt werden bei dieser „Tragischen“, die diesen Namen erst bei der Wiener Erstaufführung (über ein halbes Jahr nach der Uraufführung in Essen am 4.1.1907) mit dem Komponisten am Pult erhielt? Das Adagio erklingt jedenfalls vor dem Scherzo, womit sich Rattle auf die ausdrückliche Entscheidung Mahlers berufen darf, die später von der Mahler Witwe Alma revidiert wurde.
Wie jeder Hörer Musik empfindet, ist höchst individuell und daher nicht auf konkret eng Beschreibendes zu reduzieren. Ein Großteil der Musikwissenschaft spricht von zunehmend höchsten Schreckensvisionen ohne Erlösung ( was wurde nicht alles in die drei Hammerschläge hineingelegt?) , während etwa Dirigent Teodor Currentzis zwar auch zum Ergebnis kommt, dass die Sechste zum ersten Mal die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, final aber eine Katharsis, eine schützende Dunkelheit heraus hören möchte: „Die Menschen hungern nach dramatischen Erfahrungen, um in sie einzutauchen und von ihnen stimuliert zu werden. Auf dem absoluten Höhepunkt des Dramas, der Verstrickungen, der Tragödie werden die Zuschauer erlöst.“
Im klangtechnisch hervorragenden Abschiedskonzert, das auch in einer Filmversion als Blu-Ray beigeschlossen ist, kann sich der Hi-Fi Begeisterte von einem Tsunami an Orchesterleidenschaften, von diesem Opus Summum der klassischen Symphonie überwältigen lassen. Jeder soll diejenigen Hör-Erfahrungen machen, diejenigen Assoziationen wählen, die seinem Naturell entsprechen. Rattle, der seit jeher eine enge Nahebeziehung zum Werk Mahlers pflegte und einen humanistisch vorwärtsgewandten Grundgeist verkörpert, unterbreitet uns mit seiner musikalischen Sicht ein Angebot. Wiewohl es im 21. Jahrhundert um die Welt alles andere als glorios bestellt ist, können wir allen Katastrophen mit kluger Entscheidung entgehen. Wir sollten uns lieber an herrlich apokalyptischen Klängen berauschen, so aufregend anzuhören, wie Michelangelos Sintflut in der Sixtina anzuschauen ist, als endzeitlich Trübsal blasen. Dass das Ergebnis weniger schrill und exzentrisch als ausgewogen rund und schön klingt, hat manche Kritiker als wohl als ideologisch beliebig gestört. Ich liebe es, weil es wohl so das Beste ist, was mit diesem Orchester herauszuholen ist. Eine akustische Weltraumfahrt, einzigartig mit ein wenig kühlem Abstand zu mancher kurzlebigen Hitzigkeit, wie es halt die nordisch ruhigeren Liverpooler und Berliner mögen.
Anmerkung: Auf der Blu-Ray Disc ist auch noch die Dokumentation „Echos einer Ära“ enthalten. Der Aufsatz „Des Sämanns reiche Ernte“ zieht Resümee der Zeit Sir Simon Rattles als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
Dr. Ingobert Waltenberger