MAHLER BEIM WORT GENOMMEN
Mahler. The Complete Symphonies
Stuttgarter Philharmoniker,
Dortmunder Philharmoniker
Gabriel Feltz
dreyer gaido Musikproduktionen Münster
Katalognummer 21140
Die Edition enthält ein 108-seitiges Booklet mit Werkkommentaren von Gabriel Feltz zu allen Werken und einen Originalbeitrag von Volker Hagedorn.
„Da traust Di was!“ Dieses Zitat der einstigen bekannten Burgschauspielerin, Inge Konradi, kommt einem leicht in den Sinn, wenn die vergleichsweise kleine Musikproduktionsfirma dreyer gaido sich über 15 Jahre einer Mammutaufgabe stellte, alle Sinfonien von Gustav Mahler aufzunehmen.
Die Protagonisten sind zwei deutsche Orchester, überwiegend die Stuttgarter Philharmoniker und die Dortmunder Philharmoniker. Dirigent der Einspielung ist der Berliner Gabriel Feltz, langjähriger Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker und heute Generalmusikdirektor in Dortmund sowie Chefdirigent in Belgrad.
Bei den Aufnahmen handelt es sich ausschließlich um Liveaufnahmen.
Die Produzenten dachten groß und entschieden mutig. Inzwischen ist der Musikmarkt mit zahlreichen Mahler Zyklen mehr als gut ausgestattet, darunter viele Dirigier-Giganten völlig unterschiedlicher Couleur: Abbado, Bernstein, Boulez, Chailly, Gielen, Haitink, Kubelik, Maazel, Sinopoli, Solti, Svetlanov oder Tennstedt, um nur einige wenige zu nennen.
Kann ein solches Unterfangen gelingen, zumal dies nur auf der Basis von Zugeständnissen möglich erscheint? Die Orchester der vorliegenden Aufnahmen spielen nicht in der Liga der Welt-Klangkörper und in einer Studioaufnahme kann eine Perfektion erreicht werden, wie dies bei einem Liveerlebnis nicht möglich ist.
Und doch: es ist ein großer Wurf gelungen mit dieser Gesamteinspielung!
Gabriel Feltz erweist sich zunächst als formidabler Orchestererzieher, der beide Orchester zu erstaunlichen, herausragenden Klangerfahrungen führt, die in ihrer musikalischen Unbedingtheit bezwingen. Zuweilen geht das an die Leistungsgrenze der Orchester und doch ist es eben auch der musikalische Ritt durch das Mahlersche Feuer, der diesem Zyklus eine ganz besondere Aura gibt. Mag mancher Bläsereinsatz etwas wackelig sein oder das Schlagzeug bei den Stuttgartern mitunter etwas zu sehr auf Sicherheit spielen, es sind kleine Einwände.
Dem gegenüber steht ein gestaltender, erzählender und fühlender Dirigent, der hörbar weiß, worauf es bei dieser Musik ankommt. Feltz kopiert nicht seine Kollegen, sondern erarbeitete sich einen ganz subjektiven interpretatorischen Weg und einen eigenen Mahler-Klang mit den Orchestern.
Sachlichkeit, bei gründlicher Partitur Analyse trifft auch risikofreudige Expressivität. Klare rhythmische Strukturen und unbedingte Durchhörbarkeit, selbst in den größten Klangmomenten sind die Eckpfeiler seiner Lesart. Feltz ist und bleibt während des ganzen Zyklus ein individuell Gestaltender, dem die musikalische Aussage und der emotionale Ausdruck besonders wichtig sind. Dabei kann er sich auf sein instinktsicheres Timing verlassen, d.h. die Musik kann atmen und wird dabei zugleich vorangetrieben, wenn es auf die Höhepunkte zugeht. Feltz setzt gerade damit besondere, sehr eigene Akzente. Seine Tempi wirken ausgewogen, manches Accelerando erscheint manchmal befremdlich, weil ungewohnt und doch ist es das, was eine Aufnahme so reizvoll erscheinen lässt: die musikalische Überraschung. Und davon gibt es in diesen Mitschnitten viele gelungene Momente, die beeindrucken.
Beide Orchester sind vorzüglich auf Feltz eingestimmt und geben alles, was in ihren Kräften steht. Es ist ein schönes und wichtiges Dokument für den hohen Qualitätsstandard deutscher Orchester.
Die gewaltigen Herausforderungen, ob exponierte Instrumentalsoli, vor allem in den Holz- und Blechbläsern, werden couragiert und mit exponierter Spielfreude realisiert. Die Streicher leisten vorzügliche Arbeit und überzeugen mit ausgewogener Klangqualität.
Kaum einem Dirigenten gelang es bisher, den Beginn der 1. Sinfonie so aus dem Nichts entstehen zu lassen, wie hier. Was für ein Zauber!
Bei Feltz wird die Stimme Gustav Mahlers hörbar und das in aller Komplexität und Vielschichtigkeit. Jeder Takt atmet und klingt bedeutungsvoll. Und es passt zu Feltz, dass er auch den vielen Schroffheiten der Sinfonien offensiv begegnet, dazu setzt er sehr deutliche Akzente. Treffsicher gestaltet er die Übergänge und erzeugt stets neue Spannungsbögen. In der zweiten Sinfonie ist dies deutlich zu erleben und lässt somit den Zuhörer tief zwischen die Notenzeilen schauen. Tanja Ariane Baumgartner gestaltet dazu ein tief empfundenes Urlicht.
Dann wieder begeistert der nach vorne stürmende Aplomb in den Sinfonien drei, fünf und sechs.
Diese Interpretationen wirken zuweilen wie ein Hörkrimi und lassen nicht kalt. Wie gut findet Gabriel Feltz dann auch wieder in die Ruhe zurück, wie im herrlich ausmusizierten Adagio der dritten Sinfonie, welches bei Feltz in einem Licht Hymnus endet, der den Zuhörer in die Arme schließt.
Mit leichter lyrischer Hand und wiederum vielen Zwischentönen ist die vierte Sinfonie zu erleben. Im dritten Satz gelingen Feltz und den Stuttgartern Sternstunden Momente, so innig, so gefühlt und klar in der rhythmischen Empfindung ist das musiziert. Dazu steuert Sopranistin Jeanette Wernecke den gut verständlichen Gesang in gewünscht kindlicher Manier bei.
In den Sinfonien fünf und sechs treibt Feltz die Stuttgarter Philharmoniker energisch und mit deutlichem Espressivo an, ohne dabei die Tempi zu forcieren. Dabei verliert er sich nicht in Gefühlsexzessen, sondern konzentriert sich vor allem auf eine Balance zwischen Struktur und Emotion. Und es gelingt ihm überzeugend, auch wenn dafür mögliche Härten (z.B. die Pauke in der sechsten Sinfonie) hie und da abgemildert erklingen.
Bei diesem Zyklus ist der Zuhörer niemals auf der sicheren Seite in Bezug auf die eigene Hörerwartung. Und das macht diese Aufnahmen so kurzweilig und immens spannend.
Und einer der absoluten Höhepunkte dieses Zyklus sei hier verraten. Wer nun dachte, dass Gabriel Feltz das berühmte Adagietto der fünften Sinfonie eher zügig beschreiten würde, nun, hier ist es anders zu erleben. Ganz anders als in allen Aufnahmen!
Die Satzbezeichnung „Sehr langsam“ ist für Feltz das Maß der Dinge. Mahler beim Wort genommen!
Im Ergebnis ergibt dies einen neuen Superlativ in der Geschichte der Mahler Interpretation. Schnelle Dirigenten wie Rudolf Barshai wendeten für das Adagietto kaum mehr als acht Minuten auf, Willem Mengelberg sogar nur sieben Minuten.
Im Durchschnitt bewegen sich die meisten Einspielungen bei neun bis elf Minuten. Bernstein, Karajan und Maazel gehörten mit über elf Minuten zu den besonders langsamen Dirigenten. Und der bis dato langsamste Dirigent, Harold Farberman, benötigte etwas mehr als zwölf Minuten. Farberman polarisierte bei seinen Mahler Aufnahmen stark, da er die These vertrat, dass Mahlers Sinfonien immer zu schnell gespielt würden. In seinem fast kompletten Zyklus schlägt er daher äußerst langsame Tempi an. Ähnlich getragen musizierte auch James Levine diesen berühmten Satz.
Und der sonst so forsche Gabriel Feltz? Zwölf Minuten neunundzwanzig!
Warum ist das so relevant? Zum einen zeigt es, wie kontrastreich Feltz musiziert, wie genau er der Partitur nachspürt und der Musik Mahlers immer neuen Entfaltungsraum widmet, wo sie angezeigt ist. Dabei wirkt diese nun extrem langsam vorgetragene Interpretation keineswegs verschleppt. Im Gegenteil. Gabriel Feltz und die fühlbar „singenden“ Stuttgarter Philharmoniker eröffnen für den Zuhörer eine neue Hör-Welt. Weit ausschwingend und dabei die Zeit auflösend. Der melodische Verlauf spricht Bände und öffnet die Seele endlos weit. Mutig, eigen und unwiderstehlich. Ein interpretatorischer Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte von Gustav Mahler!
Die Spielfreude der Orchester ist zuweilen geradezu überrumpelt und da geht dann Gabriel Feltz auch ins volle Risiko, wie etwa im losstürmenden Beginn des letzten Satzes in der siebten Sinfonie. Ein deutlicheres Bekenntnis an die Lebensfreude kann es kaum geben. Hier wird es erfahrbar.
Eine Besonderheit dieses Zyklus ist insgesamt die hohe Qualität aller Vokalsolisten und der beteiligten Chöre. Hier ist die vorzüglich geratene achte Sinfonie besonders hervorzuheben. Klanglich hervorragend ausbalanciert und mit voller Dynamik eingefangen, erlebt der Zuhörer ein packendes Sängerfest bei sehr guter Textverständlichkeit. Im Finale der achten Sinfonie öffnet Gabriel Feltz alle Schleusen und musiziert seine Zuhörer in den Himmel der Mahler Glückseligkeit. Ein gewaltiger Abschlag und dann große Begeisterung des Dortmunder Auditoriums.
Ebenso fasziniert und berührt die neunte Sinfonie besonders stark, weil Feltz hier mit den Dortmunder Philharmonikern wiederum tief in die Seele Mahlers blickt und ihm hier musikalische Offenbarungsmomente gelingen. Dann in der Burleske scheut er nicht die extreme Groteske, somit tönt die Musik grell und fratzenhaft. Im vierten Satz eröffnen Feltz und die Dortmunder Philharmoniker eine Welt der Transzendenz, die einen großen Sog entwickelt. Trost im Tode? Oder nur Endlichkeit? Gabriel Feltz und die hingebungsvollen Dortmunder Philharmoniker geben darauf eine klare Antwort.
Die unvollendet gebliebene 10. Sinfonie liegt hier mit dem Adagio und dem kurzen Purgatorio als Fragment vor. Feltz begreift sie hörbar als Musik des 20. Jahrhunderts und liefert mit den Stuttgarter Philharmonikern einen bewegenden Abschluss dieses Zyklus. Bei Feltz wird dieser unvollendete Schwanengesang Mahlers zur Zukunftsmusik. Zum Teil verstörend in den zugespitzt vorgetragenen Dissonanzen, um dann deutlichst in kontrastierender Milde der harmonischen Auflösung zu enden.
Was nützen herausragende Interpretation und hingebungsvolles Spiel, wenn die Tontechnik nicht adäquat mitzieht? Zu oft ein trübender Makel vieler Edelaufnahmen Gustav Mahlers.
Und auch in diesem Punkt erwartet den Zuhörer eine freudvolle Überraschung! Die Aufnahmen begeistern durch eine außergewöhnliche Aufnahmequalität der CDs, vier davon liegen sogar als SACD vor, die so manche Aufnahme der Deutschen Grammophon oder EMI auf die hinteren Plätze verweist. Realistischer Raumklang, bei voll eingefangener Dynamik und eine ausgeprägte Natürlichkeit in den Instrumentalgruppen, machen diese CD-Einspielung zu einem besonderen Hörerlebnis.
Abgerundet wird diese liebevoll zusammengestellte Edition durch ein hoch informatives Beiheft, in welchem Gabriel Feltz seine Gedanken zu den einzelnen Sinfonien äußerst.
Alles in allem ist hier eine Herkules-Aufgabe zu einem sehr erfolgreichen Abschluss gekommen. Das Label dreyer gaido hat eine wichtige, gute und innovative Entscheidung getroffen, diesen Zyklus einzuspielen. Er wird den Freunden der Musik von Gustav Mahler viele neue Erkenntnisse und besondere Hörerlebnisse vermitteln.
Gabriel Feltz, der großartig gestaltende Dirigent dieser gelungenen Einspielungen gibt Gustav Mahler alle Ehre, die diesem Meister Komponisten gebührt!
Ein wichtiges und wertvolles Dokument in der Mahler-Diskographie!
Dirk Schauß, Juni 2022