MAGDEBURG: GRETE MINDE von Eugen Engel – Premiere der Uraufführung
13.2.2022 (Werner Häußner)
Raffaela Lintl, Zoltan Nyári. Foto: Andreas Lander
Die Geschichte dieser Uraufführung ist so erstaunlich, dass sie selbst als Opernstoff dienen könnte: Da liegt eine fertige Partitur über ein halbes Jahrhundert lang in einem Emigrantenkoffer in San Francisco, bis sie von den Enkeln des Komponisten ans Tageslicht gehoben wird. Eine Kette von Zufällen spielt die völlig unbekannte Oper in die Hände der Dirigentin Anna Skryleva, die sie fast 90 Jahre nach ihrer Entstehung in Magdeburg mit Begeisterung zum Klingen bringt.
Den Autor des Werks nach Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ kennt kein Mensch in der musikalischen Welt: Eugen Engel, 1875 in Widminnen/Ostpreußen (heute Polen) in eine jüdische Familie geboren, steht in keinem Musiklexikon. Er verdiente sein Brot mit einem Geschäft für Stoffe in Berlin, bis er 1939 zu seiner Tochter in die Niederlande fliehen musste. Von dort deportierten ihn die Nazis und ermordeten den 67-Jährigen am 26. März 1943 in Sobibor.
Die Magdeburger Dramaturgin Ulrike Schröder hat die Spuren von Engels Leben und Wirken erforscht: Als Komponist vermutlich weitgehend Autodidakt, stand der gebildete Kaufmann mit musikalischen Größen seiner Zeit wie Engelbert Humperdinck, den Dirigenten Leo Blech und Bruno Walter, dem Pianisten Edwin Fischer und seinem zeitweiligen privaten Kompositionslehrer Otto Ehlers in Briefkontakt. Erhalten sind von Engels Lieder und Kammermusik, aber sein Hauptwerk, dem er sich von 1914 bis 1933 widmete, ist die Oper „Grete Minde“ auf ein Libretto des gebürtigen Magdeburgers Hans Bodenstedt, der im Dritten Reich Karriere als Direktor von NS-Verlagen wie „Blut und Boden“ machte. In Deutschland hatte Eugen Engels Oper keine Chance, aufgeführt zu werden.
Während seine Tochter Eva Löwenberger im Februar 1941 mit ihrer Familie in die USA auswandern konnte, scheiterte Engels Emigration „tragischer Weise in letzter Minute“, wie Schröder schreibt. Eva war es jedoch gelungen, einen Koffer mit Dokumenten mitzunehmen, der bis nach ihrem Tod im Jahr 2006 ungeöffnet blieb. Erst Engels Enkel, Claude L. Lowen und Janice Ann Agee entdeckten darin neben Briefen, Dokumenten und kleineren Kompositionen die Partitur der „Grete Minde“.
2019 wurde auf Initiative von Janice Ann Agee ein Stolperstein am Ort des letzten Wohnhauses von Eugen Engel in der Berliner Charlottenstraße 74-75 verlegt. Der Berliner Hobbysänger Uwe Jöckel – so berichtet der Spiegel – sei auf den unbekannten jüdischen Komponisten aufmerksam geworden, habe Mail-Kontakt mit der Enkelin in den USA aufgenommen, sich Noten zu „Grete Minde“ schicken lassen und sie an seine Bekannte, die künftige Generalmusikdirektorin von Magdeburg, weitergegeben. Skryleva konnte die Magdeburger Intendantin Karen Stone überzeugen, in der letzten ihrer 13 Spielzeiten vor dem Ruhestand die Uraufführung zu wagen. Nach einer pandemiebedingten Verzögerung kam Engels große Oper nun endlich auf die Bühne.
Die 1880 erschienene Novelle Theodor Fontanes in der geschickten Bearbeitung Bodenstedts hat den Gelegenheitskomponisten zu einer komplexen und farbenreichen Musik inspiriert. Die Instrumentierung ist spätromantisch üppig, manchmal zu dicht; die harmonische Sprache erinnert an Engelbert Humperdinck und Siegfried Wagner, weist aber auch in kühlen und harten Harmoniefolgen auf die damalige Moderne eines Paul Hindemith und sogar Kurt Weill hin. Engel hatte offenbar ein gutes Ohr für die musikalische Entwicklung im Berlin der zwanziger Jahre. Das volle Orchester plus zwei Harfen und Orgel geben dem Klang Opulenz und lassen ein avanciertes Kolorit zu.
Anna Skryleva leitet die Magdeburgische Philharmonie mit allem Herzblut – die Musiker folgen ihr mit satt ausgespielter Klanglust, die allerdings nicht immer durchhörbar macht, wie Engel den Orchesterklang konzipiert und welche Farbe dominieren sollte. Mit beachtlicher Souveränität geht der Komponist mit den Stimmen um: Zumindest aufs erste Hören sind die Partien anspruchsvoll, aber sanglich geschrieben; die Einbettung ins Orchester stellt Bezüge her, ohne der Stimme ihren Raum zu nehmen. Auch die Chöre sind einer großen Oper würdig und der Magdeburger Opernchor, einstudiert von Martin Wagner, zeigt sich der unbeschwerten Eröffnung ebenso gewachsen wie dem Männergesangsvereinston der Wirtshausszene im zweite Akt, dem liturgischen Touch des „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ ebenso wie der Panik des Feuer-Finales.
In der Novelle Fontanes finden sich ausgedehnte Natur- und Landschaftsschilderungen, die teils als idyllisches Gegenbild zur Lebenssituation der Menschen, teils als gleichnishaftes Seelengemälde erscheinen. Darauf verzichtet das Libretto Bodenstedts. Dafür stellt es in knapper, manchmal kolportagehafter Sprache die Spannungen und Konflikte in den Vordergrund. Grete Minde entwickelt sich von einem Mädchen an der Schwelle zur Pubertät zu einer jungen, in schmerzhaften Erfahrungen gereiften, aber selbstbewussten, sogar kämpferischen Frau.
Ihre Außenseiterrolle ist bereits durch ihre (verstorbene) Mutter definiert: Die war eine „Span’sche“, eine Fremde mit schwarzen „Teufelsaugen“ in der lutherisch geprägten Kleinstadt Tangermünde. Liebe gibt es in dieser strengen, harten Welt nicht: Gretes Halbbruder Gerdt flüchtet sich in Geld und Arbeit, seine Frau Trud beneidet den „Hexensproß“, dem die Liebe zufliegt, während sie selbst einsam ist. Auch der junge Valtin hat eine Stiefmutter, die zwar leichtlebiger ist als die verbissene Trud, aber auch gleichgültiger und auf sich selbst konzentriert. „Wurzellos“ sei, wer ohne Mutter ist, sagt der Junge, als er beschließt, mit Grete zu fliehen und „ins Land des Glücks zu treiben“.
Doch der frischen Liebe ist kein Glück beschieden: Die beiden jungen Leute schließen sich einer Puppenspielertruppe an, Valtin erkrankt und stirbt. Grete hatte ihm versprochen, in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Dort verweigert der Halbbruder die Auszahlung ihres rechtmäßigen Erbes. Die Aussicht auf ein liebeloses Leben in Elend mündet in verzweifelter Rache: Grete setzt die Stadt in Brand und kommt mit ihrem Kind in den Flammen um.
Regisseurin Olivia Fuchs bemüht sich sehr, die Geschichte verständlich und ohne psychologische Überfrachtung zu erzählen. Das Tangermünde der Nachreformation verlegt sie – sichtbar an den Kostümen Nicola Turners – in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Koffer und Taschen verweisen auf die Deportation der Juden im Dritten Reich, feuchtkalte Betonwände schaffen eine bedrückende Atmosphäre. Das Fremdsein Gretes ist zwar im konfessionellen Gegensatz begründet – hier die lutherische Stadtgesellschaft, dort der Abkömmling der katholischen Spanierin –, wird aber mit Blick auf den Juden Eugen Engel auf die Katastrophe der Shoa im 20. Jahrhundert hingedeutet. Auch die eingeblendeten Schwarzweiß-Aufnahmen marschierender Soldaten beim Aufzug des Kurfürsten wollen solche Zeitbezüge herstellen. Leider hat man die Figur der Grete mit wirren Kupferhaaren und einem auffällig leuchtend roten Kleid allzu nah an das Klischee der „femme fatale“ gerückt.
Ansonsten wird auf der Bühne recht gezügelt agiert; manche Szene würde – wenn schon Erzähltheater – aus dem betulichen Opern-Bewegungsrepertoire befreit glaubhafter wirken. Und das Händeringen und Ausstrecken der Arme angesichts des vernichtenden Stadtbrandes wirkt dann doch allzu plakativ. Die Solisten des Magdeburger Ensembles schlagen sich wacker: Raffaela Lintl wächst nach einigen Startproblemen zu einer temperamentvollen Darstellerin mit Glut in der Stimme heran. Kristi Anna Isene sagt mir hartem Timbre die harten Worte der Trud – eine Frau, deren Herz aus Mangel an Liebe vertrocknet ist und bei der kein Mitgefühl mehr das Vorurteil überwinden kann. Jadwiga Postrożna gibt der Nachbarin Emrentz Züge von Lebensklugheit: Die Stiefmutter des jungen Valtin ist so, anders als in der Novelle, eine eher sympathische Figur.
Dem Valtin ringt Zoltán Nyári angestrengt die Töne der Lebensbitternis ab; Karina Repova setzt als „Domina“ des Klosters Arendsee einen katholischen Kontrapunkt zum protestantischen Pastor Gigas (Paul Sketris): Barmherzig ermöglicht sie für Valtin ein Begräbnis auf dem Klosterfriedhof. Das Trio des Puppentheaters, das einen Hauch von Mysterienspiel und die Andeutung einer allegorischen Ebene ins Spiel bringt, verkörpern Johannes Wollrab, Benjamin Lee (fast allgegenwärtig, in knallrotem Narrenwams mit Schellenkappe) und Na’ama Shulman). In kurzen Rollen: Marko Pantelić als hartherziger Ratsherr Gerdt Minde, Johannes Stermann (Bürgermeister Peter Guntz) und Frank Heinrich (Wirt).
Stellt sich wie stets bei solchen Ausgrabungen die Frage nach der Relevanz und der Überlebenschance: Eugen Engels „Grete Minde“ kann mit dem schlagkräftigen, von Bodenstedts schlüssig verknappten Fontane-Stoff punkten. Die Musik bietet reichlich Anlass zum Hinhören und gewinnt zumal im dritten Akt an dramatischer Beredsamkeit. Dennoch ist man geneigt, Bruno Walter zuzustimmen, der 1937 an Engel schrieb, er vermöge in der Oper „keine Erfindung persönlicher Prägung, keine Originalität in Einfall oder Führung“ finden. Dirigentin Anna Skryleva dagegen lobt an dem „komplex komponierten“ Werk die (zweifellos feststellbare) Bühnenwirksamkeit, interessante Harmonik und ein vielfarbiges Orchester. Bei aller Skepsis, die den zündenden Funken in der Musik vermisst: Eine ehrgeizige Inszenierung könnte für diese Oper mit ihrer ungewöhnlichen Geschichte eine zweite Chance bedeuten.