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LYON/Opéra de Lyon: „LE ROI CAROTTE“ von Jaques Offenbach

21.12.2015 | Operette/Musical

Lyon: „LE ROI CAROTTE“ –   Opéra de Lyon, 18.12.2015

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Christophe Mortagne als Roi Carotte und seine Rübenarmee. Copyright: Stofleth

Einen Monat nach den schrecklichen Terroranschlägen in Paris versucht Frankreich wieder zu so etwas wie Normalität zurückzukehren. Aber so wie vor dem 13. November 2015 wird es wohl nie wieder werden. Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass einem zumindest in den großen Städten Gruppen von Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag entgegenkommen. Und man wird sich auch daran gewöhnen müssen, dass beim Betreten eines Opernhauses in Zukunft nicht nur mitgebrachte Taschen untersucht werden, sondern man auch auf eventuell umgeschnallte Sprengstoffgürtel überprüft wird. Langsam erholt sich auch das Kulturleben wieder. Und so rüsten sich die Opernhäuser Frankreichs um das Jahr mit Offenbachs Operetten ausklingen zu lassen. Was nämlich bei uns „Die Fledermaus“ von Johann Strauß ist, sind den Franzosen die Werke Jacques Offenbachs. So kann man in diesem Jahr u.a. in Marseille „La Vie parisienne“, in Nancy „Orphée aux enfers“, in Tours „La Belle Hélène“ und in Limoges „La princesse de Trébizonde“ sehen. Und Offenbach steht leider auch im Zusammenhang mit den Terroranschlägen, wenn auch nur indirekt, waren doch die meisten Todesopfer im Bataclan zu beklagen. Dieser Konzertsaal mit der orientalisierenden Architektur ist nach Offenbachs Operette „Ba-ta-clan“ benannt.

In Lyon, wo man wegen des Terroranschlags sogar noch am 8. Dezember das traditionelle Lichterfest abgesagt hat, hat man sich für dieses Jahr etwas ganz Besonderes vorgenommen, nämlich den Versuch einer Reanimation der Offenbach-Operette „Le Roi Carotte“. Schon mehr als zehn Jahre vor seinem Tod (und nicht erst mit seinem letzten Werk „Les Contes d’Hoffmann“) hat Jacques Offenbach versucht neue Wege zu gehen. Mit „Le Roi Carotte“ schuf Offenbach ein Werk, das eine Mischung aus Opéra-bouffe (Operette) und Grand Opéra, aus Féérie und Revolutionsoper ist. (Mit Féérie ist ein Ausstattungsstück gemeint, das historische, exotische oder fantastische Stoffe zum Vorwand nimmt, um großen Aufwand mit Bühnenbild und Kostümen sowie mit einer ausgefeilten Bühnentechnik zu treiben.) Kein Geringerer als Victorien Sardou, der Autor der Theaterstücke „La Tosca“, „Fedora“ und „Madame Sans-Gêne“ (die später von den Komponisten Puccini und Giordano vertont wurden), verfasste für Offenbach ein Libretto, das eine Satire über das kaiserliche Regime sein sollte. Durch den Deutsch-Französischen Krieg von 1870und die damit verbundenen politischen Umwälzungen musste das Libretto jedoch umgeschrieben werden. Das Stück basiert auf einem fantastischen Märchen von E.T.A. Hoffmann, „Klein Zaches, genannt Zinnober“, das von einem hässlichen Jungen handelt, der von einer Fee in einen eleganten jungen Mann verwandelt wird. (Offenbach hat in „Les Contes d’Hoffmann“ mit dem Lied von Klein-Zack nochmals darauf zurückgegriffen.) Die Diskussionen mit Sardou über Libretto, Besetzung und Musik nahmen kein Ende und führten letztlich angesichts der enormen Länge des vieraktigen Werkszu dem Vorschlag eine gekürzte Version in drei Akten zu erstellen.

Fridolin XXIV. ist ein Lebemann, aber ein schwacher Herrscher im Märchenland Krokodyne. Um die Finanzen seines Reichs zu retten, soll er die reiche Prinzessin Cunégonde heiraten. Die in Ungnade gefallene Hexe Coloquinte (Kürbis) hält im Turm des Schlosses die Prinzessin Rosée-du-Soir (Abendtau) gefangen, die aber mit Hilfe von Robin-Luron, Fridolins Puck-artigem guten Geist, fliehen kann. Die Hexe will Fridolin absetzen und erweckt mit ihren Zauberkünsten das Gemüse im Schlossgarten zum Leben. Eine ausgewachsene Karotte putscht sich mit einer Armee aus Rüben und Rettichen an die Macht und vertreibt Fridolin vom Thron. Dieser geht mit seinen Getreuen Truck, Pipertrunck, Rosée-du-Soir und Robin-Luron ins Exil ins Königreich der Insekten und wird durch viele Abenteuer und Prüfungen(u.a. muss erin Pompei König Salomons Ring finden, der unsichtbar macht) geläutert. In der Zwischenzeit muss das Volk jedoch erkennen, dass der neue Machthaber noch viel schlechterist als der vorhergehende und vor allem korrupt. Das Volk erhebt sich, vertreibt das Gemüse vom Hof und setzt den in der Zwischenzeit zurückgekehrten Fridolin wieder als Herrscher ein. Dieser heiratet jedoch nicht Cunégonde, die sich mit Roi Carotte eingelassen hat, sondern Rosée-du-Soir.

Offenbach hat dazu ein Feuerwerk an Melodien geschrieben mit herrlichen Arien, Duetten, Ensembles und Chören. Die Uraufführung dieses für die damalige Zeit politisch wohl hochbrisanten Stückes 1872 in Paris geriet für Offenbach zu einem unbeschreiblichen Triumph. Das Publikum stürmte das Théâtre de la Gaité, um die 195 Vorstellungen mit vielen verschiedenen Bühnenbildern, über 200 Mitwirkenden und mehr als 1000 Kostümen zu erleben. Das Spektakel mit einem Vesuvausbruch, einer auf die Bühne fahrenden Lokomotive und einer Parade von Insekten soll sechs Stunden gedauert haben. Das Stück wurde danach noch in London, New York und zuletzt in Wien (37 Aufführungen im Theater an der Wien zwischen dem 23.12.1876 und April1877) nachgespielt, dann verschwand es in den Archiven.

Der Verlag Boosey & Hawkes ist seit 15 Jahren damit beschäftigt eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Offenbachs herauszugeben, die der Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck erarbeitet. Von Offenbachs mehr als 100 Bühnenwerken sind bis dato gerade einmal 30 Werkausgaben erschienen. Seit der Wiederentdeckung der großen romantischen Oper „Die Rheinnixen“ (die übrigens 1864 an der Wiener Hofoper uraufgeführt wurde und vor einigen Jahren im Festspielhaus St. Pölten anlässlich eines Gastspiels des Opernhauses von Ljubljana zu sehen war) ist dies nun die wichtigste Wiederentdeckung eines Offenbach-Bühnenwerkes.

Was lag näher als Laurent Pelly mit der schier unlösbaren Aufgabe zu betrauen, dieses vergessene Werk 143 Jahre nach seiner spektakulären Uraufführung wieder auf die Bühne zu bringen. Pelly hat in Lyon in den letzten Jahren bereits ein halbes Dutzend Werke von Offenbach äußerst erfolgreich inszeniert. Chantal Thomas hat dafür ein leicht verwandelbares Bühnenbild geschaffen, das größtenteils aus Bücherregalen, beweglichen Schränken und rollenden Tischen besteht. Schwierige Szenen wurden klug gelöst, so erfolgte der Auftritt der Lokomotive nur akustisch oder fand der Ausbruch des Vesuvs nur anhand eines hereingefahrenen qualmenden Modells des Vesuvs statt, in dem unter Donnergrollen die Szenerie in blutrotes Licht getaucht wurde. Allerdings war dann die Parade der Insekten dann doch etwas dürftig, indem der Chornur Bildtafeln von Insekten weitergereicht hat. Am besten gelang jedoch der Bühnentrick, als die Hexe das Gemüse wachsen ließ, das Gemüse aus den Beeten stapfte und sich auf den Weg machte den Thron zu erobern. Dazwischen zog die Hexe Coloquinte (die außerdem zwischendurch als Erzählerin fungierte und somit gestrichene Passagen überbrückte) entweder einen Weihnachtsbaum oder ein riesengroßes Märchenbuch hinter sich her. Köstlich die Ausstaffierung von Roi Carotte (großartig die Kostüme, die Laurent Pelly selbst entwarf): er sah so unappetitlich aus, wenn er mit seinen grauslichen Wurzelfingern in der Nase bohrte. Erschreckend, wie schnell die Hofgesellschaft (inklusive der Prinzessin Cunégonde) Fridolin fallen lässt und sich dem neuen Herrscher anpasst. Plötzlich tragen alle Frisuren mit orangefarbenen Haaren und die Prinzessin legt sich mit Roi Carotte in einem orangefarbenen Kleid ins Bett. Die Ahnengalerie Fridolins wurd
e schnurstracks durch Porträts von verschiedenen Gemüsesorten ersetzt (das war wirklich witzig!) und die Adeligen waren sich nicht zu schade um vor dem Gemüse zu buckeln. So schnell kann man die Partei wechseln. Aber am Ende wird der Karottenkönig in eine Püriermaschine geworfen und zu Püree verarbeitet. Es grenzt wirklich an ein Wunder, dass Laurent Pelly dieses Konglomerat aus unglaubwürdigen Szenen zu einem wunderbaren Ganzen zusammengefügt hat. Dafür hat ihm Agathe Mélinand, wie in vielen anderen gemeinsamen Projekten zuvor, das Libretto bearbeitet und die Dialoge aktualisiert. Das bewährte Duo Mélinand/Pelly hat jedenfalls auf die dreiaktige (und nicht die vieraktige) Version zurückgegriffen und das Stück auf drei Stunden Aufführungsdauer gekürzt, was zur Folge hatte, dass manche Szenen (im Bienenreich oder beim Affenkönig) sowie auch manche Rollen (wie der gute Zauberer Quiribiri) zur Gänze gestrichen wurden.

Ein wunderbares Ensemble hat sich da mit Begeisterung auf dieses Abenteuer eingelassen. Yann Beuron war mit frischem, unverbrauchtem Tenor der unbedarfte Fridolin, der durch seine Abenteuer und Prüfungen zum starken Herrscher heranreifte. Antoinette Dennefeld sang mit schönem, rundem Mezzosopran die freche Prinzessin Cunégonde. Die kanadische Mezzosopranistin Julie Boulianne gab burschikos und mit schönem Timbre einen kecken Robin-Luron. Chloé Briot besitzt einen zarten Sopran und war somit ideal für die Partie der Rosée-du-Soir. Und der Charaktertenor Christophe Mortagne war mit seiner krächzenden Stimme eine vorzügliche Besetzung der Titelrolle. Von der restlichen Besetzung sind noch die beiden Baritone Boris Grappe als Truck und Jean-Sébastien Bou als Pipertrunck besonders hervorzuheben. Leider kein Wiedersehen gab es mit Felicity Lott, die ursprünglich als Coloquinte angekündigt worden war. Es wäre sicher schön gewesen die unvergessliche Titelheldin in Pellys lustiger Inszenierung der „Belle Hélène“ in Paris (in der französischen Originalsprache) und in London (auf Englisch) noch einmal in einer Pelly-Produktion einer Offenbach-Operette zu erleben. Statt ihrer übernahm nun die Schauspielerin Lydie Pruvot die Sprechrolle der Hexe. Chor und Orchester der Opéra de Lyon gaben unter der temperamentvollen Leitung des jungen Dirigenten Victor Aviat wirklich ihr Bestes um dieser Offenbach-Operette zu einem Riesenerfolg zu verhelfen.

Das Publikum tobte im ausverkauften Haus. Vor der Vorstellung versuchten noch einige mit „Cherche un place“-Schildern ein Ticket zu ergattern. Der Opéra de Lyon ist das große Kunststück gelungen der Opernwelt ein Meisterwerk zurückzugeben. Jetzt liegt es an den anderen Opernhäusern bzw. deren Intendanten den Mut aufzubringen, dieses große Werk auf die Bühne zu stemmen. Es wird sich jedoch (ähnlich wie bei „Les Contes d’Hoffmann“) jedes Opernhaus seine eigene Fassung zurechtschneidern müssen. Denn eine Gesamtaufführung wird wohl kein Opernhaus der Welt je wieder wagen. Und kleine Opernhäuser kommen dafür ohnehin nicht in Frage, denn das Werk verlangt ein großes Orchester, einen großen Chor, viele Solisten und wie bereits geschildert viele Szenenwechsel, die bewältigt werden müssen. „Le Roi Carotte“ von Offenbach kann man jedenfalls als DIE Wiederentdeckung des Jahres bezeichnen.

Walter Nowotny

 

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