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LYON: TOSCA . Neuinszenierung im Haus des künftigen Münchner Opernchefs

24.01.2020 | Oper


Tosca im Wohnzimmer. Foto: Jean Louis Fernandez

Lyon: „TOSCA“ – Opéra  20.1.2020

 Man kann es kaum glauben, aber Puccinis Verismo-Reißer „Tosca“, an fast allen Opernhäusern der Welt ein fixer Bestandteil des Repertoires, wurde an der Opéra de Lyon erst zweimal (!) gegeben: nach der dortigen Erstaufführung im Jahr 1906 war die Oper hier zuletzt ín der Spielzeit 1978/79 in einer Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle zu sehen. Es war also höchste Zeit dem Publikum diese Oper wieder zu präsentieren, aber wer den Intendanten Serge Dorny kennt, wusste bereits im Voraus, dass das garantiert keine traditionelle Inszenierung à la Zeffirelli werden würde.

Unzählige Regisseure sind schon an Puccinis „Tosca“ gescheitert, vor allem dann, wenn sie versucht haben, die Handlung in eine andere Zeit zu verlegen. Diese Oper spielt nämlich exakt am 17. und 18. Juni 1800 in Rom. Spätestens wenn im 1. Akt über den Sieg der königlichen Armee über Napoleon berichtet wird und im 2. Akt die berichtigte Meldung von Napoleons Sieg in der Schlacht bei Marengo überbracht wird, wird es lächerlich, wenn sich etwa ein Gestapo-Chef in SS-Uniform oder ein Mafiaboss der Gegenwart über diese Meldung aufregt. Also die Handlung der Oper zu einem anderen Zeitpunkt spielen zu lassen endet meistens in einem peinlichen oder gar lächerlichen Desaster. Um diese Oper also in einem anderen Kontext ÜBERZEUGEND auf die Bühne zu bringen, da muss man schon ein großes Kunststück vollbringen, etwa so, wie dies dem Filmemacher Christophe Honoré nun an der Opéra de Lyon gelungen ist. (Es handelt sich im Übrigen um eine Co-Produktion mit dem Festival von Aix-en-Provence, wo die Produktion bereits im letzten Sommer zu sehen war.) Sein Inszenierungskonzept hat auch ein Vorbild, nämlich den berühmten Film „Sunset Boulevard“ von Billy Wilder, in dem eine berühmte Stummfilmschauspielerin auf ihrem Anwesen zurückgezogen lebt und von einem Comeback träumt.

Die Handlung spielt daher in der Gegenwart in einem luxuriösen Appartement einer alternden Operndiva (Bühnenbild: Alban Ho Van, Kostüme: Olivier Bériot). Die Wohnung ist fast mehr ein Museum denn eine Wohnung. Überall erinnern Gegenstände an die große Karriere der Primadonna. Auf dem Klavier stehen Fotos, auf denen sie mit berühmten Kollegen zu sehen ist, an den Wänden hängen Plakate von Opernproduktionen, in denen sie mitgewirkt hat usw. Hier lebt die Diva zurückgezogen in einer vergangenen Welt, nur ein gutaussehender Jüngling (Jean-Frédéric Lemoues) leistet ihr Gesellschaft. Tagsüber als Diener und Sekretär tätig, muss der Callboy wohl abends noch einige Überstunden im Schlafzimmer machen. Zu Beginn hört die Diva ihre eigene Aufnahme von Toscas Arie „Vissi d’arte“ an und bewegt dazu ihre Lippen. Sie erinnert sich dabei nicht nur an ihre Triumphe als Tosca, sondern sinniert auch im Sinne der gesungenen Worte (Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe …) über ihr Leben. Dann teilt ihr der Diener mit, dass das Kamerateam und die jungen Sänger eingetroffen wären. Sie will sie nicht empfangen. Ihr Diener weist sie darauf hin, dass sie zugestimmt hätte, dass eine Dokumentation über ihr Leben gedreht werde und sie dabei auch mit einem jungen Sängerensemble Puccinis „Tosca“ für eine konzertante Aufführung einstudieren soll. Als sie erfährt, dass auch ein Kinderchor dabei ist, dreht sie fast durch, sie will die Kinder keineswegs in ihrer Wohnung haben. Schließlich kann ihr Diener sie mit sanften Worten beruhigen und sie empfängt die ganze Horde in ihrem Appartement. Sobald die beiden Kameramänner sie auf Schritt und Tritt verfolgen und alles aufnehmen, was sie sagt und tut, beginnt sie das Ganze sogar zu genießen. Sie fühlt sich geschmeichelt, dass die Kinder von ihr Autogramme wollen und Selfies mit ihr machen, sie genießt es von den jungen Sängern ehrfürchtig begrüßt zu werden. Schließlich teilt sie sogar Lutscher an die Kinder aus.

Die musikalische Probe der „Tosca“ soll also Mittelpunkt der Dokumentation über das Leben der großen Diva  werden. Und ganz langsam beginnen die Handlungsstränge der Oper und der Gegenwart ineinanderzugreifen. Die Madonna in der Kirche Sant‘ Andrea della Valle ist selbstverständlich die Diva selbst. Diese konnte es sich nicht verkneifen, wenn Tosca ihre ersten Töne („Mario! Mario“) zu singen hat, diese selbst zu singen, sehr zum Ärger der jungen Sängerin, die für die Tosca vorgesehen ist. Die Primadonna sieht ihren Fehler ein (oder tut wenigstens so …) und übergibt danach ganz huldvoll den Einsatz an ihre junge Kollegin. In der Zwischenzeit kommt der Tenor in Schwierigkeiten. Vom ersten Moment an stellte er der jungen Sängerin nach, aber nun wird er mehr und mehr von der großen Primadonna fasziniert. Diese überwacht die musikalische Probe, bricht auch mal ab, gibt den jungen Sängern Ratschläge und sorgt auch sonst für Ordnung. Als der Sänger des Scarpia Tosca auf den Hintern greift, klopft ihm die Diva sofort auf die Finger. Ein neuer Fall von #MeToo in ihrer Wohnung, das kommt überhaupt nicht in Frage. Wahrscheinlich hat sie diesbezüglich im Laufe ihrer Karriere selbst genügend Erfahrungen gesammelt. Im Te Deum wird schließlich von allen die Diva angebetet, und statt eines Kreuzes wird ein gerahmtes Plakat von einer „Tosca“-Aufführung an der Covent Garden Opera, auf dem die Diva in der Titelrolle zu sehen ist, hochgehalten

An dieser Stelle möchte ich kurz festhalten, dass es absolut unmöglich ist bei einmaligem Sehen dieser Inszenierung alle Details mitzubekommen. Es tut sich so viel gleichzeitig auf der Bühne, dazu kommen noch ständige Videoeinblendungen auf die Leinwände im oberen Bereich der Bühne (teilweise sehen wir in Großaufnahme, was die Kameramänner gerade live filmen, teilweise Einblendungen von verschiedenen Tosca-Verfilmungen etc.).

Im zweiten Akt beginnt dann das ganze aus dem Ruder zu laufen. Zu Beginn sitzen Tosca und die Diva in deren Schlafzimmer, sehen sich Fotoalben mit Bühnenfotos der berühmten Diva an und singen gemeinsam die Kantate (die Tosca hinter der Bühne zu singen hat), während im Nebenzimmer die musikalische Probe weitergeht. Die Primadonna ist mehr und mehr von ihrer jungen Gesangskollegin angetan. Sie schenkt ihr das Tosca-Kostüm, in dem sie einst an der Covent Garden Opera auf der Bühne gestanden ist (jenes berühmte rote Kleid, das in der Premiere der Produktion noch Maria Callas getragen hat), in das die junge Sopranistin sofort schlüpft und somit die Probe darin fortsetzt. Der Tenor hat in der Zwischenzeit beschlossen mit der alternden Diva ins Bett gehen zu wollen, wohl aus dem Grund um später damit prahlen zu können. Da sie ihn jedoch sexuell nicht so sehr erregt, muss er sich Mut antrinken. Er trinkt jedoch viel zu viel, sodass er sich zunächst übergeben muss und dann im Bett der Diva einschläft. Damit die beiden ungestört sein können, kümmern sich die Gesangskollegen um den hübschen Diener der Diva und vergewaltigen ihn. Dies geschieht alles zu dem Zeitpunkt, in dem laut Libretto hinter der Bühne eigentlich Cavaradossi gefoltert werden sollte. Am Höhepunkt der Folter soll Cavaradossi einen Schmerzensschrei ausstoßen. Hier schreckt der Tenor mit einem lauten Schrei aus dem Schlaf auf. Der Tenor, peinlich berührt, dass er im Bett nicht seinen Mann stehen konnte, wechselt wieder ins Nebenzimmer zu der Probe. Wenigstens hat er genügend Kraft um eine strahlendes „Vittoria!“ hinauszuschleudern. Wer weiß, ob er das noch geschafft hätte, wenn er sich vorher im Schlafzimmer verausgabt hätte … Während auf der Probe Tosca und Scarpia um den Preis für Cavaradossis Leben feilschen („Quanto? Il prezzo … A donna bella io non mi vendo a prezzo di moneta.”), spielt sich im Nebenzimmer genau das Gegenteil ab. Die Diva, enttäuscht, dass der junge Tenor noch vor dem Sex im Bett eingeschlafen war, steckt nun ihrem jungen, fast nackten Diener Geld zu, das dieser wie ein Gogo-Boy in seinen eng sitzenden Slip steckt. Aber nun hat die Primadonna plötzlich keine Lust mehr. Sie kehrt zur Probe in den Nebenraum zurück, gerade als Tosca Scarpia erstochen hat. Die junge Sopranistin kommt der Diva mit blutigen Unterarmen entgegen. Spätestens da fasst wohl die alternde Diva einen Plan, wie sie noch einmal Aufsehen erregen kann. Sie stellt die beiden Kerzenleuchter, die eigentlich dem toten Scarpia zur Seite gestellt werden sollten, auf den Boden und legt sich dazwischen mit ausgetreckten Armen. Probeliegen für den Sarg?

Im dritten Akt sind wir dann nicht mehr in der Wohnung der Diva, sondern in einem Theater oder Konzerthaus, in dem „Tosca“ konzertant gegeben wird. Das Orchester sitzt nun auf der Bühne, die Sänger agieren in Abendkleid und Smoking. Die Primadonna tritt aus dem Zuschauerraum auf. Sie genießt es majestätisch am Publikum vorbeizuschreiten mit einem großen Gehstock mit goldenem Knauf (wie ihn Renata Tebaldi in ihren „Tosca“-Aufführungen immer verwendet hat).  Im Zuschauerraum ist eine Miniaturausgabe der Engelsburg aufgebaut, mit Kerzen beleuchtet. Die Diva stellt Zinnsoldaten auf und singt dabei das Lied des Hirtenknaben, das von verschmähter Liebe handelt, die den Tod bringt. Dann drängt sie sich an der ersten Reihe vorbei auf die Bühne. Zunächst lauscht sie dem Konzert, dem Ergebnis der Einstudierung der Oper unter ihrer Leitung. Dann angelt sie sich einige Orchestermusiker, die gerade unbeschäftigt sind, und befielt ihnen Blumensträuße aus der Gasse zu holen und an der Bühnenrampe auszulegen. Dann erklimmt sie eine Brüstung über dem Orchester, auf der dann die Erschießung Cavaradossis simuliert wird. Sie schlitzt sich vor den Augen aller die Pulsadern auf und stirbt auf der Bühne. Ein endgültiger theatralischer Abgang, wie man ihn von einer Primadonna erwarten kann. Ihre letzte große Rolle.

Dies alles korrespondiert aber immer mit der Musik bzw. mit der gerade verwobenen Opernhandlung. Es ist absolut unmöglich alle Details anzuführen. Eine großartige Idee möchte ich jedoch noch hervorhaben: als im 2. Akt Sciarrone über die Schlacht bei Marengo berichtet, deutet der Sänger auf ein Gemälde in der Wohnung der Diva, das ebendiese Schlacht zeigt. (Warum fiel das bis jetzt noch keinem Regisseur ein?)

Dass aber diese Aufführung nicht nur szenisch interessant ist, sondern auch musikalisch etwas zu bieten hat, ist vor allem dem jungen Chefdirigenten Daniele Rustioni zu danken. So klangschön musiziert und klanglich ausbalanciert hört man Puccinis Opernreißer nicht alle Tage. Er hat das Orchester der Opéra de Lyon zu Höchstleistungen animiert (besonders hervorzuheben waren das Klarinetten- und das Cellosolo). Selten noch hat man Scarpia so belkantesk singen gehört wie an diesem Abend von Alexey Markov mit seinem warm timbrierten, weich strömenden Bariton. Massimo Giordano war als fescher italienischer Tenor,  der mehr Interesse an Sex als an seinem Gesangsberuf hat, überzeugend und konnte vor allem mit seinen Stentortönen („La vita mi costasse“ oder „Vittoria!“) punkten. Elena Guseva beeindruckte mit ihrer strahlenden Sopranstimme und leuchtenden Höhen. Lediglich in der Tiefe hat die Stimme zu wenig Fundament. Ihr „Vissi d’arte“ war gewiss der musikalische Höhepunkt des Abends, und das trotz der übermächtigen Konkurrenz vieler großartiger Tosca-Interpretinnen in Form von stummen Videoeinblendungen (Maria Callas, Renata Tebaldi, Raina Kabaiwanska, Shirley Verrett, Regine Crespin und natürlich Catherine Malfitano) über ihrem Kopf. (Hat sich Angel Blue, die die Premiere in Aix-en-Provence gesungen hat und eigentlich auch hier in Lyon singen sollte, wegen dieser erdrückenden Konkurrenz aus vergangenen Zeiten von der Produktion zurückgezogen?)


Catherine Malfitano als alternde Diva. Foto: Jean Louis Fernandez

Es war aber vor allem (noch einmal) der große Abend der Catherine Malfitano. Die amerikanische Sopranistin, die seit 1976 bei den Salzburger Festspielen (u.a. die Servilia in Mozarts „La clemenza di Tito“ und die vier Frauenpartien in „Hoffmanns Erzählungen“ in den unvergesslichen Ponnelle-Inszenierungen sowie die „Salome“ in der Produktion von Luc Bondy) und seit 1982 auch an der Wiener Staatsoper (Traviata, Manon, Grete in Schrekers „Der ferne Klang“, Butterfly, Salome und „Wozzeck“-Marie) gesungen hatte, hat sich bereits vor Jahren von der Bühne zurückgezogen. Seither ist sie überaus erfolgreich als Opernregisseurin tätig. Weltberühmt wurde sie vor allem 1992 durch die „Tosca“-Verfilmung, die mit Plácido Domingo als Partner an den Originalschauplätzen in Rom gedreht wurde. Nun kehrte sie noch einmal auf die Opernbühne zurück, um dieses großartige Portrait einer alternden Operndiva auf die Bühne zu bringen. Mit Selbstironie, mit Wehmut, mit ihrer nach wie vor immensen Persönlichkeit, mit der sie eigentlich alle anderen auf der Bühne erdrückt, hat sie eindringlich diese in der Vergangenheit lebende, einsame Diva verkörpert. Großartig, wie sie immer wieder von ihrem wirklichen Leben für wenige Momente aus der Realität in ihr früheres Künstlerleben hinübergleitet. Mit Melancholie durchlebt sie so zwischendurch immer wieder Momente aus Toscas Leben, als wäre es ihr eigenes Schicksal gewesen. Im nächsten Moment ist sie wieder der alternde Opernstar, der mit der Wirklichkeit nicht mehr zurechtkommt. Stimmlich muss man erwartungsgemäß einige Abstriche machen, aber dennoch faszinierte sie mit den Gesangspassagen, vor allem am Schluss mit dem berührend vorgetragenen Lied des Hirtenknaben.

Wie soll man diesen Abend in wenigen Worten zusammenfassen? Christophe Honoré hat mit dieser Inszenierung eine wundervolle Hommage für den immer seltener werden Typus der Operndiva geschaffen. Eine Liebeserklärung an die Gattung Oper an sich, eine Liebeserklärung an die großen Opernprimadonnen im Speziellen. Ein Abend, der einen von der ersten bis zur letzten Minute fasziniert, ein Abend der einen unglaublich berührt, ein Abend, der am Schluss sogar Gänsehaut erzeugt. Sind das nicht die Gründe, warum wir überhaupt in die Oper gehen?

 Walter Nowotny

 

 

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