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LYON/ Opéra: MEFISTOFELE von Arrigo Boito

19.10.2018 | Oper


Copyright: Jean-Louis Fernandez

Lyon: „MEFISTOFELE“– Opéra  15.10.2018

 Als Riccardo Muti 1995 eine Neuproduktion von Arrigo Boitos „Mefistofele“ an der Mailänder Scala herausgebracht hat (diese Inszenierung von Pier‘ Alli wurde übrigens, ebenso wie in Mailand mit Samuel Ramey in der Titelpartie und Riccardo Muti am Pult, 1997 von der Wiener Staatsoper übernommen), wirkte der elfjährige Daniele Rustioni im Kinderchor mit. Ob dieser Junge damals schon ahnte, dass er 23 Jahre später ebendiese Oper als Chefdirigent eines Opernhauses dirigieren wird? Wohl kaum, und doch muss dieses frühe musikalische Erlebnis bei Daniele Rustioni einen so tiefen Eindruck hinterlassen haben, dass er sich Arrigo Boitos einzige vollendete Oper als Eröffnungspremiere für seine zweite Spielzeit als Chefdirigent des Opernhauses von Lyon gewünscht hat. Und sein Dirigat geriet auch zweifelsfrei zum Ereignis des Abends. Wie er den stimmstarken Chor und den Kinderchor der Opéra de Lyonund das bestens einstudierte Orchester der Opéra de Lyon im Griff hat, wie er bezüglich Tempi und Dynamik den richtigen Riecher hat, wie er es im Tutti voll krachen lässt (ohne dabei aber die Sänger zuzudecken), aber andererseits die lyrischen Passagen voll auskostet, das war schon mehr als beachtlich. Man muss kein Prophet sein, wenn man diesem jungen Mann eine Weltkarriere voraussagt.

Arrigo Boito hielt sich enger als jeder andere Komponist, der den „Faust“-Stoff vertonte, an Goethe. Er übernahm wesentliche Teile aus „Faust I“ und die Klassische Walpurgisnacht und Fausts Tod aus „Faust II“. Diese episodische Zusammenstellung setzt jedoch beim Hörer die Kenntnis der fehlenden Teile der Gesamtdichtung Goethes voraus. Die Musik lässt Einflüsse von Wagner und Meyerbeer erkennen. Der Einfluss von Berlioz äußert sich in der ungemein differenzierten instrumentalen Farbgebung, in der Massenszene des Ostertages, der fugierten Walpurgisnacht-Szene und im Finale des ersten Aktes.


Copyright: Jean-Louis Fernandez

Man kann den „Mefistofele“ natürlich nur aufführen, wenn man einen idealen Interpreten für die Titelrolle parat hat. Der Kanadier John Relyea ist einer jener seltenen Sänger, die einen „schwarzen“ Bass besitzen und somit ist er nicht nur wegen seines hühnenhaften Aussehens, sondern auch stimmlicheine Idealbesetzung für den teuflischen Mephisto. Paul Groves kann da als Faust nicht ganz mithalten. Er bewältigt die dramatischen Szenen zwar sehr gut, aber ihm fehlt „Italianità“ in der Stimme (was vor allem in den lyrischen Passagen stört) und mit den Höhen müht er sich hörbar ab. Evgenia Muraveva, die in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen als Lisa in „Pique Dame“ zu sehen war, sang wie von Boito gewünscht beide Frauen-Partien, die Margherita und die Elena. Sie besitzt einen eindrucksvollen Spinto-Sopran, ihre unruhige Stimmführung irritiert jedoch vor allem in Margheritas berühmter Kerkerarie „L’altra notte“. Agata Schmidt als Martha und Pantalis sowie Peter Kirk als Wagner und Nereo ergänzten zufriedenstellend.

Die Inszenierung, eine Koproduktion des Opernhauses von Lyon mit der Stuttgarter Oper, schuf Àlex Ollé, Mitglied der Truppe La Fura dels Baus, die 1999 bei den Salzburger Festspielen die Berlioz-Variante des Faust-Stoffes („La Damnation de Faust“), übrigens ebenfalls mit Paul Groves als Faust, inszeniert hat. Die heutigen Regisseure glauben nicht mehr an Gott und den Teufel. Das Böse ist unter uns bzw. in uns, das ist die wohl wichtigste Aussage dieser Neuproduktion. Alfons Flores hat ein Großraumlabor in scheußlichem, grünem Neon-Licht auf die Bühne gestellt. Faust ist offensichtlich hier der Chef dieses Labors, in dem er und seine Mitarbeiter in weißen Schutzanzügen menschliche Organe wissenschaftlich untersuchen. Sucht man nach der Seele des Menschen? Mefistofele ist Mitglied der Putztruppe, die nach Dienstschluss das Labor zu reinigen haben, ein unauffälliger Arbeiter, weit entfernt von einem Teufel. Aber im Keller ermordet er Kinder. Besorgt er auf diese Weise neue Organe, die dann oben im Labor untersucht werden? Dafür fühlt sich Mefistofele verfolgt, er hört Stimmen, die Arbeiter des Labors und die ermordeten Kinder erscheinen ihm in Horrovisionen als Engel, klagen ihn als Teufel an und reißen ihm sein Herz aus dem Leib. Auch Margherita arbeitet in diesem Labor, aber Faust, ein bereits angegrauter Herr mittleren Alters, ist viel zu schüchtern um Margherita, auf die er ein Auge geworfen hat, privat anzusprechen. Mefistofele weiß Rat, er besorgt Faust ein Glitzersakko und schleppt ihn auf die After-Work-Partyin einer Disco (statt auf das Osterfest). Margherita wartetungeduldig darauf von Faust endlich angesprochen zu werden, sie will offensichtlich schon lange mit dem Chef ein Verhältnis anfangen. Das Bühnenbild verwandelt sich dazu spektakulär in ein gigantisches Stahlgerüst, das dann als Disco, als Gefängnis, als Cabaret mit Showtreppe oder für die Walpurgisnacht in immer neuen Varianten zusammengefügt wird.

Nachdem Margherita für den Tod der Mutter verantwortlich ist und auch ihr Kind, das diesem Verhältnis mit Faust entspringt, getötet hat, wird sie, nachdem man ihr den Kinderleichnam als Henkersmahlzeit vorgesetzt hat,  sehr effektvoll auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet, nur um wenige Sekunden später in glanzvoller Robe auf demselben Stuhl als Elenawiederzukehren. Natürlich ist das nicht die wirkliche Helena von Troja. Mefistofele führt Faust in ein Cabaret, wo der Star des Abends eben als „Schöne Helena“ erscheint. Am Ende sind wir wieder im Keller des Labors und Mefistofele schneidet Faust die Kehle durch. Fine.

Was an dieser Inszenierung stört ist die Banalisierung des Faust-Stoffes. Mit Goethes Vorlage hat das nicht mehr viel zu tun. Aber das größtenteils sehr junge Publikum, das mit Video-Clips und Youtoube aufwächst, war von der bildgewaltigen Inszenierung begeistert.Einhellig war jedoch der Jubel für den Chor, der wirklich überwältigend sang, das bestens disponierte Orchester und deren Leiter Daniele Rustioni, von dem wir uns noch viel Schönes erwarten dürfen.

 Walter Nowotny

 

 

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