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LYON/Opéra: „LESSONS IN LOVE AND VIOLENCE“ von George Benjamin.

20.05.2019 | Oper


Foto: Stofleth

Lyon: „LESSONS IN LOVE AND VIOLENCE“– Opéra  18.5.2019

Es gibt sie ja doch, die erfolgreichen Opernkomponisten der Gegenwart, wenn auch vorwiegend im anglikanischen Raum. Ein Komponist, der hierzulande leider noch ziemlich unbekannt ist, ist George Benjamin. 1960 in London geboren, studierte er bei Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium und später bei Alexander Goehr am King’s College in Cambridge. Seit den 1980er Jahren komponierte Benjamin vorwiegend Instrumentalmusik. Nach seinem eher unbemerkt gebliebenen Opernerstling „Intothe Little Hill“ (2006 uraufgeführt), avancierte seine zweite, 2012 beim Festival von Aix-en-Provence uraufgeführte Oper „Written on Skin“ – eine Parabel über die Grenzen der Macht –  zum Welterfolg. Die französische Tageszeitung Le Monde bezeichnete dieses Werk gar als die beste Oper seit Alban Bergs „Wozzeck“. Sie wurde mit dem International Opera Award 2013 ausgezeichnet und in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gekürt. Seither war dieses Werk an 20 weiteren Opernhäusern in mehr als 80 Aufführungen zu sehen, darunter an der Niederländischen Oper Amsterdam, am Théâtre du Capitole Toulouse, am Royal Opera House Covent Garden London, am Teatro del MaggioMusicaleFiorentino, an der Pariser Opéra-Comique, in Barcelona, Madrid, Dortmund, Köln, Bonn, Detmold, St. Gallen, Philadelphia und New York sowie bei den Wiener Festwochen (2013) und bei den Münchner Opernfestspielen.

Dieser ungewöhnlich große Erfolg veranlasste den Intendanten der Opéra de Lyon, Serge Dorny, bei George Benjamin eine neue Oper in Auftrag zu geben. Und so entstand nun in Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, der Niederländischen Oper Amsterdam, der Staatsoper Hamburg, der Lyric Opera Chicago, dem Gran Teatre del LiceuBarcelona und dem Teatro Real Madrid die Oper „Lessons in Love andViolence“. Das Jus primaenoctis, die Uraufführung, überließ man dem Royal Opera House Covent Garden, wo die Oper am 10. Mai 2018 aus der Taufe gehoben wurde. Von Anfang an stand fest, dass dasselbe Team für Regie und Bühnenbild zuständig sein würde wie bei der Uraufführung der Vorgängeroper „Written on Skin“. Nachdem die neue Opernproduktion bereits in Amsterdam und vor kurzem erst in Hamburg zu sehen war, machte sie nun in Lyon Zwischenstation, bevor sie dann auf ihrem Siegeszug um die Welt weiter in die USA reisen wird. Der Riesenerfolg fußt auf drei Säulen: dem ausgezeichneten Libretto, der überwältigenden Musik und der spannenden Inszenierung.

Das Libretto stammt von dem englischen Dramatiker Martin Crimp (Jahrgang 1956), der für George Benjamin auch schon die Libretti für die beiden vorangegangenen Opern verfasst hatte. Und man darf jetzt schon behaupten, dass diese fruchtbare Zusammenarbeit eine ähnlich gute sein muss wie jene seinerzeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Der Inhalt ist von Christopher Marlowes Drama „Edward II.“ inspiriert, verzichtet aber auf eine Benennung dieses Königs. Crimp hat ein gut gebautes, spannendes Libretto verfasst, das nicht nur die Dreiecksbeziehung zwischen König Edward, seiner Frau Isabel und seinem Geliebten Gaveston beinhaltet, sondern auch in grandioser Weise die immer wiederkehrenden Macht- und Gewaltmechanismen des politischen Lebens reflektieren.

Die Oper behandelt die homosexuelle Liebe des Königs (weder König Edward II. noch sein Sohn werden in der Oper namentlich genannt) zu seinem FreundGaveston und seinen Untergang im Konflikt mit dem Armeeführer Mortimer. Der König steht allgemein für die Pflichtvergessenheit der Liebestrunkenen und der Missachtung der Obrigkeit gegenüber dem Volk. Während er selbst nur noch für Vergnügungen lebt und im Luxus schwelgt, ignoriert er das Leid der verarmten Bevölkerung und vernachlässigt die Königin Isabel. Diese geht eine Beziehung mit Mortimer ein, der daraufhin Gaveston hinrichten lässt und den König zur Abdankung zwingt, um dessen Sohn als Nachfolger einzusetzen. Auch der König kommt ums Leben. (Die brutale Hinrichtung wird nicht gezeigt. Der König stirbt eine Art Liebestod – wir sind ja schließlich in der Oper und nicht im Theater.) Seine beiden Kinder werden in allen Szenen Zeugen des Geschehens. Sie lernen aus diesen „Lektionen“. Der junge König lässt Mortimer vor den Augen seiner Mutter töten. (Die Theater-im-Theater-Szene, in der der Sohn die Mutter zwingt, einem „Spiel“ beizuwohnen, in der die Ermordung ihres Liebhabers dargestellt wird, erinnert an eine ähnliche Szene in Shakespeares „Hamlet“.)

George Benjamins Musik ist größtenteils in einem sanften Konversationsstil geschrieben mit zarter Instrumentation, die eine hohe Textverständlichkeit garantiert. Harfen und Cymbalon lockern immer wieder mit markanten Effekten den ohnehin recht minimalistischen Orchestersatz auf. Es gibt viele lyrische Passagen, vor allem in den Liebesduetten des Königs mit Gaveston, und in den Zwischenspielen orchestrale Bravourstücke, die an die großen Zwischenspiele von Alban Berg (vor allem in der Oper „Lulu“) erinnern.

Wie bereits die Vorgängeroper „Written on Skin“ führte die britische Regisseurin Katie Mitchell auch diese neue Oper zum Erfolg. Sie verlegt die Handlung ins „Hier und Jetzt“. Alle sieben Szenen, die an verschiedenen Schauplätzen spielen sollten (Gemach des Königs, Gemach der Königin, Gefängnis, Hoftheater etc.), werden von der Regisseurin in das Schlafgemach des Königs verlegt, um die Handlung zu intensivieren und aus verschiedenen Blickwinkeln sichtbar zu machen. Dazu hat die Bühnenbildnerin Vicki Mortimer ein schickes Schlafzimmer einer Upperclass-Gesellschaft auf die Bühne gestellt mit einem großen Bett, in dem geliebt und gestorben wird, einem riesigen Aquarium, Gemälden von Francis Bacon und diversen Skulpturen in Vitrinen. Die heranwachsenden Kinder des Königspaares sind ständig anwesend und werden Zeugen, wie hier geliebt, intrigiert, gefoltert und gemordet wird. Von Szene zu Szene wird das Bühnenbild gedreht und von einer anderen Seite gezeigt, gleichzeitig verliert das Zimmer mehr und mehr an Glanz. Die Gemälde und Skulpturen verschwinden langsam, das Aquarium erscheint im zweiten Teil ohne Wasser und Fische, nur der nackte Felsen ist noch zu sehen.


Foto: Stofleth

Alexandre Bloch am Pult des Orchesters der Opéra de Lyon führt mit ruhiger Hand sicher durch die Partitur, ihm gelingt eine stimmungsvolle von Anfang an in Bann ziehende Aufführung. Stéphane Degout singt mit gepflegtem Bariton die dankbare Partie des namenlosen Königs. Auch darstellerisch überzeugt er jeden Moment, die Liebesszenen mit Gaveston sind niemals geschmacklos, sie wirken echt und überhaupt nicht peinlich. Wunderschön gelungen ist sein Liebestod: ein Fremder (der personifizierte Tod?) erscheint in Gestalt Gavestons und der König stirbt in einer innigen Umarmung durch einen Todeskuss (ähnlich wie der Prinz in „Rusalka“). Seineeher spröde Stimme und seine nicht gerade ideale Aussprache des englischen Originaltextes wiesen den rumänisch-ungarischen Bariton Gyula Orendt stimmlich nicht gerade als Idealbesetzung als Gaveston aus, dazu kam noch, dass er die Rolle des schwulen Liebhabers nicht ganz glaubhaft über die Rampe brachte. Das genaue Gegenteil bot Peter Hoare in der Partie des Mortimer. Mit seinem kräftigen, dunkel timbrierten Tenor, der wohl schon in Richtung Heldentenor geht, und einer voll überzeugenden Darstellung gelang ihm in erschreckender Weise eine glaubhafte Charakterstudie des ehrgeizigen Emporkömmlings, der für die Erreichung seiner Ziele im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht. Georgia Jarman mit ihrem hellen Sopran hat sich mit der Partie der Königin Isabel stimmlich ein wenig geplagt. Während sie darstellerisch voll überzeugen konnte, hatte sie mit den großen Sprechgesangpassagen (größtenteils in der Mittellage) so ihre Not. Einen schönen lyrischen Tenor ließ Samuel Boden in der Partie des jungen Königs hören.

Eine großartige Aufführung wurde vom Publikum nach 90 pausenlosen Minuten mit lange anhaltendem Applaus belohnt. So soll, nein so muss zeitgenössische Oper sein. Diese Oper wird ähnlich wie „Written on Skin“ (diese Oper wird übrigens in der nächsten Saison konzertant im Wiener Konzerthaus zu hören sein) ihren Siegeszug über den Erdball antreten.

Serge Dorny wird ab der Spielzeit 2021/22 die Intendanz der Bayerischen Staatsoper München als Nachfolger von Nikolaus Bachler antreten. Man weiß bis jetzt noch keine Details, was seine Pläne für dieses Opernhaus betrifft. Aber eines ist mit Sicherheit anzunehmen: die Bayerische Staatsoper wird unter seiner Intendanz bestimmt die erste Anlaufadresse für zeitgenössische Oper sein. Aber zuvor gibt es noch in der nächsten Spielzeit an der Opéra de Lyon die Uraufführung der neuesten Oper von Thierry Escaich, dessen erste Oper „Claude“ 2013 in Lyon einen sensationellen Erfolg bei Publikum und Presse erzielte. Das Libretto zu der neuen Oper schreibt der französische Schriftsteller afghanischer Herkunft Atiq Rahimi. Auf die Uraufführung der gemeinsamen Oper „Shirine“ am 2. Mai 2020 darf man schon jetzt gespannt sein.

Walter Nowotny

 

 

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