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LYON/ Opéra de Lyon: DON GIOVANNI. Neuinszenierung

10.07.2018 | Oper


Don Giovanni kurz vor seinem Selbstmord. Copyright: Jean-Pierre Maurin/Opera de Lyon

Lyon: „DON GIOVANNI“– Opéra  7.7.2018

 Nach einer sehr anspruchsvollen Saison beendete die Opéra de Lyon ihre Spielzeit mit einer Neuinszenierung von Mozarts Oper „Don Giovanni“, die der Dichter E.T.A. Hoffmann die „Oper aller Opern“ genannt hat. Wie haben wir diese Oper nicht schon in den letzten Jahr(zehnt)en erlebt? Don Giovanni als Verführer, als brutaler Vergewaltiger, als Egoist, als Draufgänger, als Charmeur usw. Und auf welche Weise musste er nicht schon in die Hölle fahren, mit Herzinfarkt oder mit einem Bauchschuss, und in einer besonders unappetitlichen Produktion wurde er sogar am Schluss von den anderen Protangonisten aufgegessen. Jeder, der den Intendanten Serge Dorny und den Regisseur David Marton ein wenig kennt, wusste schon im Vorfeld, dass nun in Lyon keine konventionelle Aufführung herauskommen wird. Die Erwartungshaltung war natürlich sehr groß, vor allem fragte man sich, wie ein Regisseur im Jahr 1 nach der #MeToo-Debatte den wohl berühmtesten Frauenverführer der Operngeschichte auf die Bühne bringen will. Etwa als Vorläufer von Harvey Weinstein?

Nun, David Marton hat tatsächlich darauf reagiert, aber ganz anders, als es sich wohl Feministinnen erwartet hätten. Man könnte fast sagen, dass die #MeToo-Debatte hier eher das Gegenteilbewirkt hat. Don Giovanni als schwacher Mann und die Frauen als böse Verführerinnen, das hatte sich wohl niemand erwartet!Dieser Don Giovanni war gewiss der sensibelste, schwächste und traurigste Don Giovanni, den man wohl je erlebt hat. Ein schwer depressiver Mann, der ein Trauma aus der Kindheit nie überwunden hat. Zu den ersten Klängen der Ouvertüre sehen wir, wie ein kleiner Junge im Pyjama von einer reiferen Frau verführt wird. Dieses frühe sexuelle Erlebnis richtet bei dem Jungen einen immensen Schaden an. Ein Teil seiner Persönlichkeit, der unschuldige Part, spaltet sich von seiner Persönlichkeit ab und begleitet ihn fortan bis zu seinem Ende. Immer wenn es brenzlig wird (oder wenn es um Sex geht), sieht Giovanni diesen unschuldigen Jungen. Aber auch in seinem weiteren Leben blieb Giovanni immer ein Opfer der Frauen. Er scheint auf alle Frauen eine starke Anziehungskraft auszuüben, kann sich jedoch ihren Verführungskünsten nicht entziehen.Wahrscheinlich war er ein Leben lang auf der Suche nach Liebe und hat diese nie gefunden. Er wurde von den Frauen nur als Lustobjekt benutzt. Nach einem ruhelosen Leben zieht er sich schwerstens depressiv in eine bunkerartige Burg mit Stuckdecke zurück, die mit ihren Steinwänden und offenen Fenstern den Opernbesucher mehr an Kareol aus „Tristan und Isolde“ erinnert. Und so wie Tristan von seinem Getreuen Kurwenal gepflegt wird, so umsorgt hier Leporello seinen Herrn. Leporello hat sich in dieser Burg eine Musikecke eingerichtet, in der er, wenn ihn sein Herr nicht braucht, Opernmusik hört. Er besitzt eine riesige Schallplattensammlung von Mozarts „Don Giovanni“, die er Donna Elvira in der Registerarie auch präsentiert. War Don Giovanni im Berufsleben vielleicht Opernsänger? Wenn Leporello mit Kopfhörern und Klavierauszug Mozarts Musik lauscht, erinnert er sich an die besseren Zeiten, die er mit seinem Herrn wohl erlebt hat. Giovanni liegt wie Tristan schwer krank in einem Himmelbett. Erinnerungsfetzen aus seinem Leben werden lebendig. Einige seiner Begegnungen durchlebt er noch einmal, wie z.B. die Liebesnacht mit Donna Anna, die ihn regelrecht in ihr Bett zieht. Der Komtur tritt gar nicht auf. Wenn nach dem Liebesakt Giovanni das Bett der Donna Anna verlässt und die Stimme des Komturs hört, sieht er jedoch nur sich selbst als unschuldigen Buben. Giovanni hört immer wieder Stimmen und Geräusche, die ihn fast zum Wahnsinn treiben (die Stimme des Komturs, das Pfeifen des Windes, Autolärm einer stark befahrenen Straße etc.). Dann liegt er wieder nur apathisch im Bett. Das Rezitativ zwischen Leporello und Giovanni am Beginn des ersten Aktes, nachdem die Stimme des Komturs endlich verstummt ist, bestreitet der getreue Leporello allein. Wenn er als Don Giovanni singt, bewegt er die Arme seines Herrn wie bei einer Marionette. Manchmal scheint die Zeit auch stillzustehen. Die Musik verstummt und es wird gesprochen (Passagen aus Thomas Mellers Roman „Die Welt im Rücken“ auf Französisch) oder es werden in roter Schrift die Gedanken Don Giovannis am Übertitelbalken lesbar. Dann erinnert sich Don Giovanni an Donna Elvira, die ein Kind von ihm erwartet, und die in seinen Albträumen sogar in mehrfacher Ausgabe erscheint. Giovanni wird betreut von der Krankenschwester Zerlina und dem Arzt Masetto. Obwohl die beiden heiraten, kann sich die junge Braut der geheimnisvollen Anziehungskraft ihres Patienten nicht erwehren und sie vergewaltigt Giovanni regelrecht. Zwischendurch wirft sich Giovanni wieder völlig depressiv auf das Bett um dann gleich wieder einen neuen Albtraum zu erleben. Am Ende, wenn die Stimme des Komturs (für dessen Tod er ja möglicherweise in früheren Zeiten verantwortlich ist, wir wissen es in dieser Inszenierung nicht so genau) wieder in seinem Kopf dröhnt, erscheint wieder der unschuldige Junge, sein Alter Ego, und gibt ihm ein Rasiermesser in die Hand. Giovanni schneidet sich die Pulsadern auf und stirbt in Leporellos Armen. Giovanni fährt nicht in die Hölle, im Gegenteil, der Tod ist für ihn die Erlösung. Die Hölle hatte er ja schon auf Erden. (Es ist daher nur logisch, dass das moralisierende Finalsextett gestrichen wird.)

Das Ganze klingt jetzt möglicherweise ganz kraus, war auch vielleicht nicht immer ganz logisch, aber hinterließ zeitweise schon starken Eindruck. Wenn Donna Elvira in der sogenannten Balkonszene den Schwindel von Anfang durchschaut und dann resignierend mitspielt, oder ganz besonders die Arie der Donna Anna „Crudele … Non mi dir“ gelangen ganz besonders gut. In dieser letzten Arie der Donna Anna sieht diese Frau in einer Vision, wie ihr weiteres Leben an der Seite Don Ottavios verlaufen wird oder verlaufen könnte: Wie ihr langweiliger Mann Don Ottavio sich am Morgen von ihr verabschiedet und abends wesentlich gealtert nach Hause kommt, und das immer und immer wieder, bis er alt und grau ist, und dabei gleichzeitig sich die Familie um Kinder und Enkelkinder vergrößert; sie weiß nun, dass ihr Leben vorbei ist. Leidenschaftliches wie zu Beginn mit Don Giovanni wird sie nie wieder erleben und so läuft sie davon. Diese ganze Geschichte in nur eine einzige Arie verpackt zu sehen, das war schon ganz großes Musiktheater. Man könnte hier noch viele andere Beispiele anführen, aber ich will auch nicht verhehlen, dass es dazwischen leider auch immer wieder Leerläufe gab.

Aber das Ganze hätte nicht funktioniert, wären dem Regisseur nicht ausgezeichnete Singschauspieler zur Verfügung gestanden. Eine ausgesuchte Schar von Sängern brachten diese neue Sichtweise auf Don Giovanni voll überzeugend über die Rampe. Der junge kanadische Bass-Bariton Philippe Sly war der wohl traurigste und depressivste Don Giovanni, der je die Opernbühne betreten hat. Auch stimmlich war er nicht der glänzende Bariton, das hätte gar nicht zu der Figur gepasst; er wusste ganz gezielt einige stimmliche Schwächen aus dramaturgischen Gründen in die Rolle einzubauen. Sensationell war Eleonora Buratto als Donna Anna. Abgesehen davon, dass sie ein ganzes Leben in drei Stunden durchleben musste, sang sie die schwierige Partie mit ihrer immer dramatischer werdenden  Sopranstimme exzellent, mit sicheren Koloraturen und schönem Legato. Der aus Lyon stammende Tenor Julien Behr musste als Don Ottavio noch langweiliger sein als in herkömmlichen Produktionen. Er versucht mehrmals Don Giovanni zu imitieren (er zog sich an wie Don Giovanni und versuchte sich so zu bewegen wie er) um dadurch für Donna Anna interessanter zu wirken, was ihn jedoch nur noch lächerlicher machte und ihm eine schallende Ohrfeige von Donna Anna einhandelte. Aber stimmlich war er von einem Schwächling weit entfernt. Er besitzt eine sehr kernige Tenorstimme, die für Mozart fast schon ein bisschen zu schwer ist, sang aber mit viel Stilgefühl und ebenfalls gutem Legato seine beiden Arien ganz ausgezeichnet. Antoinette Dennefeld war eine stimmschöne Donna Elvira, die Giovanni sogar mit Babybauch noch verfolgte. Leporello war fast die ganze Zeit auf der Bühne. Durch die Passivität seines Herrn gerät der Diener fast zur Hauptfigur der Oper. Kyle Ketelsen war mit seinem virilen Bass geradezu sensationell als Leporello, zu Recht erhielt er neben Eleonora Buratto den stärksten Applaus des Abends. Piotr Micinski war ein ordentlicher Masetto im Arztkittel. Und YukaYanagihara (Zerlina) nahm ihre Pflicht als Kranken- bzw. Pflegeschwester nicht nur mit ihrer hübschen Sopranstimme sehr ernst. Das leibliche Wohl ihres Patienten lag ihr sichtbar am Herzen. Der nicht vorhandene Komtur wurde von Attila Jun profund und majestätisch aus dem Off gesungen. Zu erwähnen wäre unbedingt noch Cléobule Perrot, das unschuldige Alter Ego des Don Giovanni.

Stefano Montanari wählte oft zu rasche Tempi, aber das war vielleicht auch der Inszenierung geschuldet. Chor und Orchester der Opéra de Lyon erbrachten wie immer zufriedenstellende Leistungen.

Das überwiegend junge Publikum war von der Vorstellung begeistert, die wenigen Proteste von einigen älteren Besuchern, die die Sprechszene stören wollten, blieben in der Minderheit.

Diese Vorstellung wurde übrigens in mehrere Städte der Region Auvergne-Rhône-Alpes auf Riesenbildschirme im Freien übertragen. Mehr als 10.000 Menschen in der Provinz verfolgten auf diese Weise die Vorstellung, und das trotz starker Konkurrenz (gleichzeitig spielte nämlich Russland gegen Kroatien bei der Fußball-WM).

Don Giovanni als Verletzter und als Leidender, das hatten wir wohl noch nie. Und schon gar nicht als #MeToo-Opfer. Der Abend bot spannendes Musiktheater, das Publikum konnte sich dieser Faszination nicht entziehen, auch wenn nicht jeder mit dieser Sichtweise einverstanden war.

 Walter Nowotny

 

 

 

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