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LYON / Opéra de Lyon. „DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL“

17.07.2016 | Oper

Lyon: „DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL“ –   Opéra de Lyon, 15.7.2016

Welcome Party im Hause Belmontes
Willkommens-Party bei Belmonte. Copyright: Stofleth

 Die „Entführung aus dem Serail“ gilt als die erste echte deutsche Oper überhaupt und ebnete den nachfolgenden deutschen Komponisten wie C.M. von Weber den Weg. W.A. Mozart hat dieses Werk im Auftrag von Kaiser Joseph II. geschrieben, der damit ein Nationalsingspiel als Gegenstück zur italienisch geprägten Hofoper schaffen wollte. Warum aber haben die Regisseure heute so große Probleme mit diesem 1782 im Wiener Burgtheater uraufgeführten Werk? Die Zahl der misslungenen bzw. katastrophalen Inszenierungen dieser Oper in den letzten Jahren/Jahrzehnten ist kaum noch überschaubar. Gerade in letzter Zeit wurde diesem Werk wieder gar übel mitgespielt, ich denke da nur an die peinliche Inszenierung von Martin Kušej beim Festival von Aix-en-Provence 2015 oder die erst vor wenigen Wochen gezeigte Neuinszenierung am Grazer Opernhaus. (Die ebenfalls brandneue Produktion an der Deutschen Oper Berlin habe ich zwar nicht gesehen, dürfte den Berichten zufolge aber ebenfalls diese Negativliste ergänzen.) Und ich muss in meinem Gedächtnis tatsächlich lange zurückgehen, um mich an eine gelungene Produktion erinnern zu können. Die letzte interessante Inszenierung, die ich gesehen habe, war jene von Hans Neuenfels in Stuttgart, und die liegt nun auch schon mehr als 18 Jahre zurück. An der Wiener Staatsoper wurde diese Oper seit 16 Jahren (!) nicht mehr gespielt. Aber wenn ich daran denke, dass in der Direktionszeit von Dominique Meyer bisher sämtliche Mozart-Neuproduktionen schiefgegangen sind, dann kann man nur froh sein, dass der Direktor diesbezüglich eine Neuinszenierung gar nicht erst gewagt hat.

Serge Dorny, der Intendant der Opéra de Lyon, hat mir in einem Interview, das ich vor zwei Jahren mit ihm führen durfte, erklärt, dass er schon lange dieses Werk in Lyon herausbringen wollte, aber keinen geeigneten Regisseur dafür finden konnte. Nun hat er den seiner Meinung nach richtigen Mann gefunden: Wajdi Mouawad. Leider ist dieser 1968 im Libanon geborene Künstler im deutschen Sprachraum noch nicht allzu bekannt. Seine maronitische (christliche) Familie floh 1976 vor dem Bürgerkrieg zunächst nach Paris, wanderte dann aber 1983 nach Montréal aus, wo sich Wajdi Mouawad als einer der wichtigsten Autoren einer lebendigen Theaterszene etabliert hat. Bei uns ist vor allem sein Drama „Verbrennungen“ bekannt, das eigentlich nur der zweite Teil der großen Tetralogie „Das Blut der Versprechen“ ist. (2007 wurde dieses großartige Theaterstück auch im Wiener Akademietheater gezeigt; 2011 wurde die Verfilmung unter dem Titel „Incendies“, die im deutschsprachigen Raum unter dem Titel  „Die Frau, die singt“ zu sehen war, in der Rubrik Bester fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert.) Seit 2009 ist Mouawad künstlerischer Berater des Festivals von Avignon und im April 2016 wurde er zum Direktor des Théâtre national de la Colline in Paris bestellt.

Mouawad hat das Libretto der „Entführung“ nun selbst bearbeitet. Aber im Gegensatz zu der Bearbeitung von Eva-Maria Höckmayr, die daraus an der Grazer Oper ein komplett neues Stück gemacht hat (ein Ehedrama à la Strindberg oder Ibsen) hat Mouawad Mozarts Werk nicht verändert, sondern nur ergänzt bzw. von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchtet. Zu diesem Zweck hat er zusätzliche Dialoge geschrieben sowie einen Prolog, der zeigt, was nach Ende der Opernhandlung geschieht.

Die vier Protagonisten sind in die Heimat zurückgekehrt. Der Vater Belmontes gibt ein rauschendes Fest zu Ehren seines Sohnes, der „heldenhaft“ die Gefangenen aus der Gewalt der „Barbaren“ befreit hat. Kein Wort des Dankes für die Großmütigkeit des Bassa, im Gegenteil, Belmontes Vater feiert sich selbst als Sohn der Aufklärung und macht sich über die Mohammedaner lustig. Zu diesem Zweck hat er eigens einen Türkenkopf anfertigen lassen, auf den die Gäste mit einem großen Hammer einschlagen können. (Solche Türkenköpfe gab es damals auf fast jedem Jahrmarkt in Österreich.) Hier setzt nun die Musik der Ouvertüre ein. Nur Konstanze und Blonde wollen nicht an diesem Spiel teilnehmen. Beide haben während der Zeit ihrer Gefangenschaft nicht nur Verständnis für die andere Kultur entwickelt, sondern auch eine gewisse Art von Zuneigung zu dem jeweiligen Mann aufgebaut, sodass sie sich nun nicht an diesem primitiven „Hau den Türken!“-Spiel beteiligen wollen. (Blonde: „Wie kann man schlagen, was man kennt?“) Die vier Protagonisten stellen fest, dass sie ihre jeweiligen Partner nicht (mehr) verstehen können. Konstanze schlägt daher vor, Belmonte möge seine Reise aus seinem Blickwinkel erzählen, während sie ihre Erlebnisse ihm darlegen möchte, um sich so vielleicht wieder näherkommen zu können.

Und so beginnt nun die Oper mit dem Auftritt Belmontes, der von den anderen drei Personen am Bühnenrand beobachtet wird. Immer wieder wird dann in die Erzählhandlung durch die zusehenden Partner eingegriffen. Die Personen beginnen plötzlich die Gefühle des jeweils anderen zu verstehen oder zumindest zu respektieren. Und hier folgt bereits die nächste große Überraschung: Osmin ist hier ein fescher, junger Mann, der vielleicht nicht allzu gebildet ist, aber ein gläubiger Muslim, und Blonde, die von Osmin schwanger ist, aufrichtig liebt, während Pedrillo im Serail allen Frauen nachstellt. (Osmin zu Pedrillo: „Für dich ist Liebe nur ein Spaß, für mich ist sie des Lebens Sinn.“) Die Dialoge sind so klug und so organisch angelegt, es gibt keine Brüche, Gegenwart und Vergangenheit fließen ineinander über. So ist zu Beginn des 2. Aktes die Szene zwischen Osmin und Blonde in Wahrheit ein Dialog zu Dritt, da sich die Auseinandersetzung über die Unterdrückung der Frauen nicht nur zwischen Blonde und Osmin sondern gleichzeitig zwischen Blonde und Pedrillo abspielt. Es stellt sich immer mehr heraus, dass die beiden Frauen sehr wohl wahre Gefühle zu Bassa bzw. Osmin empfinden. (Konstanze zu Belmonte: „Liebst du mich genug, um zu verstehen, dass ich einen anderen habe lieben können?“) Mouawad macht aus Konstanze und Blonde hier bereits Schwestern von Fiordiligi und Dorabella, Frauen, die mehrere Männer lieben können ohne dabei den jeweiligen Partner zu verraten. Im Finale bekommt dann noch ein Punkt, der im Originallibretto einfach untergeht, eine zentrale Bedeutung: Belmontes Mutter ist ja jene Frau, die der Bassa einst geliebt hat und um deren Liebe er von Belmontes Vater betrogen wurde. Hier erfährt der Bassa, dass diese Frau, die sein ein und alles war, bereits gestorben ist. (Es wäre natürlich interessant gewesen zu sehen, wie sich die Mutter im Prolog verhalten hätte, wäre sie zum Zeitpunkt von Belmontes Rückkehr aus dem Serail noch am Leben gewesen.) Bassa Selim verliert tief erschüttert diese Frau nun ein zweites Mal. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb verzichtet er großmütig auf Konstanze, die er aufrichtig liebt. Oder vielleicht auch weil er in Belmontes Augen die blauen Augen jener Frau erkennt, die er vor langer Zeit so sehr geliebt hat. Belmonte hätte ja sein Sohn sein können.

Wajdi Mouawad ist eine wundervoll poetische Neubearbeitung des Textbuches gelungen (die Übersetzung ins Deutsche besorgte Uli Menke). Das Hauptaugenmerk ist auf Toleranz und Verständnis für andere Kulturen, andere Religionen, unausgesprochene Gefühle ausgerichtet. Hier ist nicht die christliche Welt die „gute“ und die islamische Welt die „böse“. Wie auch in seinen eigenen Werken zieht Mouawad den Zuseher hinein in einen Strudel der Gefühle, aus dem man sich nicht befreien kann. Er dringt in das tiefste Dunkel des Unterbewusstseins seiner Figuren ein und legt es schonungslos offen. Dadurch verschieben sich auch gewisse Schwerpunkte. So wird, wie bereits erwähnt, Osmin zu einer sympathischen Figur, während der „Held“ Belmonte plötzlich als purer Egoist dasteht. Durch die Rahmenhandlung wird das Ganze zu einer Art Paartherapie für Konstanze-Belmonte und Blonde-Pedrillo. Ob die beiden Paare in der wiedererlangten Freiheit tatsächlich glücklich werden?

Aber Mouawad hat nicht nur die neue Textfassung geschrieben, sondern auch zum ersten Mal überhaupt eine Oper inszeniert. Und das mit einer Detailgenauigkeit, mit einer Sensibilität, mit einer unglaublichen Musikalität, die begeisterte. Ich möchte nur ein Beispiel anführen: das Vorspiel zur Martern-Arie, das für die meisten Regisseure ein Albtraum ist. In diesem langen Orchestervorspiel bewegen sich nach der Androhung des Bassa, Konstanze habe nicht den Tod, sondern Martern aller Arten zu erwarten, die drei riesigen Wände auf die Frauen und die Kinder aus dem Serail zu und drohen sie zu zermalmen. Indem Konstanze die ängstlichen Kinder zu trösten versucht, bezwingt sie zugleich ihre eigene Angst, und dann plötzlich bricht es aus ihr heraus „Martern aller Arten mögen meiner warten …“  Großartig!

Wieder glücklich vereint Jane Archibald Cyrill Dubois Michael Laurenz Joanna Wydorska
Jane Archibald, Cyrille Dubois, Michael Laurenz, Joanna Wydorska. Copyright: Stofleth

Von seinen Theaterinszenierungen weiß man, dass Mouawad die Bühne von allem leert, was nicht absolut erforderlich ist. Er hält sich nicht mit Bühnenbildern auf, sondern setzt auf die Intensität der Körper. Zu Beginn sehen wir einen dunklen Raum, von oben hängen mehrere große Lüster herab, die „bessere Gesellschaft“ im Hause Lostados ist in prächtige Barockkostüme (von Emmanuelle Thomas) des ausgehenden 18. Jahrhunderts gekleidet. Im Verlauf der Handlung werden die Kostüme immer schlichter, immer zeitloser. Wenn dann die Erzählhandlung einsetzt wird mit verschiebbaren grauen Wänden gearbeitet, nur gelegentlich wird der Blick auf eine Kugel freigegeben, die sich manchmal dreht und das Innere des Harems zeigt, in dem die Frauen und die Kinder leben (Bühnenbild: Emmanuel Clolus).

Die Sänger haben an diesem Abend nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch und vor allem mit ihren langen Sprechtexten völlig überzeugen können, und das, obwohl einige Sänger nicht aus deutschsprachigen Ländern stammen. Jane Archibald konnte mit perfekten Koloraturen als Konstanze diesmal weit mehr beeindrucken als noch vor einem Jahr in Aix-en-Provence. Die polnische Sopranistin Joanna Wydorska war eine emanzipierte Blonde mit sicheren Höhen. Cyrille Dubois besitzt keine typische Mozart-Stimme, sondern einen eher hellen „französischen“ Tenor, überzeugte aber durch schöne Phrasierung und glaubhafte Darstellung. Über eine für diese Rolle eher ungewöhnlich kräftige Tenorstimme verfügt Michael Laurenz als Pedrillo. Der bayerische Bassist David Steffens verfügt zwar über einen hellen Bass und keine allzu große Stimme, besitzt aber die nötige Tiefe und hat uns einen ganz anderen Typ von Osmin nähergebracht, als wir das bisher gekannt haben. Es ist ungewöhnlich, dass der Schwachpunkt einer Opernaufführung nicht ein Sänger, sondern ein Schauspieler ist. Der auch von Film und Fernsehen bekannte Peter Lohmeyer (er spielt seit 2013 bei den Salzburger Festspielen den Tod im „Jedermann“) enttäuschte als Bassa Selim in jeder Hinsicht. Nicht genug damit, dass er mit reichlich übertriebenem Pathos wie ein alter Hofschauspieler seinen Text rezitierte, was überhaupt nicht zu dem natürlichen Sprachfluss der Sänger passte, er konnte auch in keinem Moment die knisternde Erotik zwischen Bassa und Konstanze glaubhaft machen. Das schafften die Sänger von Blonde und Osmin weitaus besser. Der Chor und das Orchester der Opéra de Lyon waren wie immer ausgezeichnet. Stefano Montanari forderte am Pult von allen Mitwirkenden stets höchste Präzision und sorgte mit flotten Tempi für einen exzellenten Mozart-Sound.  

Wajdi Mouawad ist bei seinem Debüt als Opernregisseur eine wahrhaft poetische, sinnliche und zugleich berührende Inszenierung gelungen. Das war wirklich eine der besten, wenn nicht sogar DIE beste Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“, die ich je gesehen habe. Und mit dieser Meinung stand ich wohl nicht alleine da. Nach dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer (die wirklich nicht einen Moment zu lang war) wollte der grenzenlose Jubel des Publikums nicht enden. Serge Dorny hat mit dieser Aufführung wieder einmal bewiesen, dass die von ihm geleitete Opéra de Lyon in Wahrheit das führende Opernhaus Frankreichs ist. Hoffentlich gelingt es dem Intendanten vielleicht wieder einmal Wajdi Mouawad zu einer Opernregie überreden zu können. Ein Theatermagier wie er könnte so manchem anderen Opernwerk neues Leben einhauchen. 

Vor Beginn der Aufführung wurde der 84 Todesopfer des Terroranschlages in Nizza am Vortag gedacht. Was hätte es für eine bessere Vorstellung danach geben können, als diese wundervolle Aufführung, die versucht zwischen der christlichen und der muslimischen Welt eine Brücke zu schlagen. In Lyon findet man unter den Zuschauern ja immer extrem viele junge Besucher. Erst im Frühjahr konnte ich in Lyon erleben, wie christliche, jüdische und muslimische Schüler gemeinsam die Oper „Der Kaiser von Atlantis“ des in Auschwitz ermordeten Komponisten Viktor Ullmann besuchten. Ich nehme an, dass viele junge Besucher auch diese elf Vorstellungen der „Entführung aus dem Serail“ besucht haben. Wenn die humanistische Aussage dieser Aufführung nur bei einigen dieser Jugendlichen erreicht sich später nicht zu radikalisieren, dann bewirkt das vielleicht mehr als alle Maßnahmen, die derzeit Politiker ergreifen. Vielleicht sind Kulturschaffende in Wahrheit doch die besseren Politiker.    

Walter Nowotny

 

 

 

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