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LYON: AUS EINEM TOTENHAUS.

04.02.2019 | Oper


Copyright: © Bertrand Stofleth

Lyon: „AUS EINEM TOTENHAUS“ – Opéra  2.2.2019

 Leoš Janáček hat es dem Publikum mit seiner letzten Oper nicht gerade leicht gemacht. Eine Oper, die in einem sibirischen Gefangenenlager spielt, die keine durchgehende Handlung aufweist und in der eine für das Publikum mögliche Identifikationsrolle fehlt, kommt beim herkömmlichen Opernpublikum nicht gerade leicht an. Der eigentliche Kern des Stücks sind die Monologe der Gefangenen, in denen  sie ihre Taten schildern. Als Klammer der Handlung fungieren die Einlieferung und die Entlassung eines politischen Gefangenen. Die durchkomponierte Musik ist expressionistisch, dominiert vom Sprechgesang der verschiedenen Akteure. Lediglich bei den häufig von Sehnsucht getragenen Erzählungen der Gefangenen erlaubte sich der Komponist einige ariose Elemente und Anklänge an die Volksmusik seiner Heimat. Janáček richtete sich das Libretto selbst ein nach dem Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, der darin seine eigenen Erlebnisse in einem sibirischen Straflager verarbeitet hatte. Janáček übernahm Auszüge aus Dostojewskis Text mit wenigen Ausnahmen wörtlich, veränderte aber die Abfolge der Szenen – beispielsweise bei der Einfügung der Episode des verletzten Adlers –, um die Handlung dramatisch zu verdichten. „In jeder Kreatur ein Funken Gottes“ schrieb Janáček auf das Deckblatt seiner Partitur. Er hat hörbar seine Bühnenfiguren geliebt.

Nun hat Serge Dorny dieses Meisterwerk des 20. Jahrhunderts an der von ihm geleiteten Opéra de Lyon in einer Co-Produktion mit dem Londoner Royal Opera House Covent Garden und dem Brüsseler Théâtre de la Monnaie in einer Inszenierung von Krzysztof Warlikowski herausgebracht. Jeder, der Opernproduktionen von Warlikowski kennt, weiß, dass der Regisseur ganz sicher nicht daran interessiert war, Zustände in einem sibirischen Gefangenenlager im 19. Jahrhundert auf die Bühne zu bringen. Das Bühnenbild von Małgorzata Szczęśniak zeigt eine Sporthalle, wie sie wohl heute in jedem Gefängnis eines zivilisierten Staates  vorkommen wird. Hier sitzen die Mörder und sonstigen Schwerverbrecher ihre Strafen ab, bevor sie wieder auf die Menschheit losgelassen werden. Aber statt sich um sie zu kümmern, werden sie sich selbst überlassen. Einer spielt Basketball, einige junge Breakdancer zeigen ihre Kunststücke, und die Mehrheit der Gefangenen sieht sich auf einem großen Fernsehschirm ein Fußballmatch an. Alltag in einem Gefängnis, das in Russland, Frankreich oder in den USA stehen kann.

Warlikowski arbeitet gerne filmische Sequenzen in seine Inszenierungen ein. Und so wird während des Orchestervorspiels per Video-Projektion der Philosoph und Soziologe Michel Foucault (1926-84) eingeblendet, der in einem Interview (das man nicht hört, sondern nur mit Untertitel verfolgen kann) über Machtmissbrauch und Gewalt, über Isolation und Sozialisierung spricht und die Frage aufwirft, welche Funktionen Richter überhaupt haben. Und damit rückt Warlikowski diese Oper auf die Ebene einer Diskussion, wie sinnvoll das temporäre Wegsperren von Verbrechern eigentlich ist. In der ersten Szene wird ein politischer Gefangener in das Gefängnis eingeliefert. Dazu fährt von der Seite ein Glasquader, in dem der Gefängnisdirektor residiert, von links auf die Bühne, während auf der rechten Seite das gelangweilte Treiben der Gefangenen im Sportsaal weitergeht.

Und bereits in der ersten Szene werden wir Zeugen, wie perfide das System Menschen, die hier landen, körperlich und seelisch bricht. Alexander Gorjantschikow erfährt nach seiner Einlieferung in das Gefängnis zuerst Spott und Erniedrigung. Seinen Protest und seinen  Hinweis, er sei politischer Gefangener, hätte er sich besser erspart, denn danach wird er mit brutaler Gewalt, mit Schlägen und Folter, in die harte Wirklichkeit zurückgeholt. Danach lernen wir den deprimierenden Alltag in einem Gefängnis kennen. Was jedoch am meisten schockiert, ist die Tatsache, dass die Gefangenen nicht nur Gewalt durch die Wachen zu ertragen haben, sondern sie sich gegenseitig noch mehr Gewalt antun und damit das Leben hier zur Hölle machen. Hier regiert das Gesetz des Stärkeren, und so spielen sich viele Machtstrukturen auf verschiedenen Ebenen ab.

Ein anderes Thema, das in diesen Diskussionen meistens negiert wird, wird ebenfalls hier angesprochen, nämlich das permanente Problem der Sexualität. Wenn viele Männer auf engstem Raum zusammengesperrt sind und über viele Jahre hinweg keine Möglichkeit haben ihre Sexualität auszuleben, dann werden eben andere Wege gesucht. Da gibt es auf der einen Seite eine Art von (Liebes-)Beziehung, wie sie zwischen Gorjantschikow und dem jungen Aljeja entsteht. (Janáček hat versucht das Problem zu kaschieren, indem er Aljeja mit einem Sopran – also als Hosenrolle – konzipiert hat. Das sollte das Problem – er schrieb die Oper ja in den Jahren 1927-28 – etwas abmildern. Heute wird diese Rolle jedoch meistens mit einem Tenor besetzt.) Aber auf der anderen Seite – und das wird wohl eher häufiger vorkommen – gibt es dann eben Übergriffe von einem Stärkeren auf einen Schwächeren. Das hat nichts mit Homosexualität zu tun, das ist ganz einfach Triebbefriedigung. Verschärft wird die Situation, wenn im 2. Akt zwei Theaterstücke von den Gefangenen aufgeführt werden (wohl eine Art von Sozialtherapie), in denen natürlich Gefangene die weiblichen Rollen übernehmen müssen. Das heizt die Stimmung noch mehr an. Ein Besucher in hohem Militärrang bringt auch noch eine Hure zur Theateraufführung mit; deren Dienste können sich jedoch nur reichere Gefangene leisten. So explodiert im Finale des 2. Aktes die testosterongesteuerte Stimmung, es kommt zu Schlägereien, Vergewaltigungen und Gewaltausbrüchen, in deren Verlauf sogar Gummi-Sexpuppen abgestochen werden. Das sexuelle Problem lässt sich in Gefängnissen einfach nicht wegdiskutieren.

Auch später arbeitet Warlikowski mit Einblendungen. Da spricht dann ein farbiger Häftling, der auf seine Hinrichtung wartet, über seine Todesängste. Sehr schön fand ich, dass Warlikowski das Prinzip der Hoffnung im Finale beibehalten hat. Die Gefangenen pflegen einen verletzten Adler und lassen ihn gesundet am Ende in die Freiheit entfliegen. In vielen heutigen Inszenierungen wird dieser kleine Funken Hoffnung auch noch zerstört. Ich habe schon Inszenierungen erlebt, in denen der Adler am Ende tot ist oder nach seiner Freilassung von den Wachen abgeschossen wird. Warlikowski hat hier keinen Adler in  seiner Inszenierung. Hier übernimmt der junge Basketballspieler die Rolle des Adlers. Zu Beginn der Oper werden dem Jungen die Beine gebrochen und er landet im Rollstuhl. Aber seine Mitgefangenen ermutigen ihn nach seiner Gesundung wieder zu spielen und seine verloren gegangene Lebensfreude kehrt zurück. Ein schöner positiver Schluss.


Copyright© Bertrand Stofleth

Aber auch in musikalischer Hinsicht gelingt eine völlig überzeugende Aufführung. Der junge argentinische Dirigent Alejo Pérez hat ganze Arbeit geleistet und das Orchester der Opéra de Lyon bestens einstudiert. Janáčeks geniale Partitur (in der kritischen Werk-Edition von John Tyrell) wurde klangfarbenreich umgesetzt. Stellenweise klingt Janáčeks Musik wunderschön, dann geht sie in ihrer Intensität an die Schmerzgrenze des Erträglichen. Schmerzen in Musik umgesetzt, keinem anderen Komponisten ist das derart eindringlich gelungen wie hier Janáček. Besonders hervorheben muss man die Solovioline, die im 3. Akt wirklich brilliert hat. Großen Anteil am Gesamterfolg hatte aber auch der Chor der Opéra de Lyon (Einstudierung: Christoph Heil), der sehr homogen assistierte. Ein großartiges Ensemble war aufgeboten, einige davon hat man schon in der legendären Inszenierung von Patrice Chéreau erlebt, wie z.B. Willard White der mit imposantem Bass und großer Bühnenpräsenz den Gorjantschikow verkörperte, dessen Stolz gleich in der ersten Szene gebrochen wird, der sich im Gefängnis von den Kriminellen abhebt und am Ende als Einziger aus dieser Hölle entkommt. Sein hübscher, junger Freund im Gefängnis wird von dem jungen kanadischen Tenor Pascal Charbonneau sehr bewegend dargestellt. Štefan Margita, der sogar schon 1992 bei den Salzburger Festspielen in der Inszenierung von Klaus Michael Grüber unter der musikalischen Leitung von Claudio Abbado dabei war,  gestaltete wie immer mit höhensicherem Tenor eindringlich den Filka Morozow, der wegen des Mordes an einem sadistischen Offizier hier eingesperrt ist. Sehr eindringlich und schönstimmig auch Ladilav Elgr als Skuratow, der seine Verlobte getötet hat, und Karoly Szemeredy als Schischkow, der seiner Ehefrau die Kehle durchgeschnitten hat. Wenn Schischkow am Ende seiner Erzählung in dem soeben verstorbenen Gefangenen jenen Mann erkennt, dessentwegen er seine Frau getötet hat, singt der alte Gefangene „Auch ihn hat eine Mutter geboren.“ Graham Clark gestaltet als alter Gefangener diese Szene überaus berührend. Auch die übrigen Mitwirkenden waren ausgezeichnet, Nicky Spence als großer Häftling und Dmitry Golovnin als Schapkin, Aleš Jenis als Sträfling in der Rolle des Don Juan und des Bramahnen und John Graham-Hall als Kedrill, Natascha Petrinsky als Prostituierte und Alexander Gelah als Tscherewin. Nur Alexander Vassiliev fiel mit trockenem Bariton in der Rolle des Kommandanten etwas ab.

Wenn diese Oper den Besucher nicht berührt oder erschüttert, dann war die Aufführung nicht gut. Leider ist gerade die Erstaufführung dieser Oper an der Wiener Staatsoper in der Inszenierung von Peter Konwitschny vollkommen danebengegangen. Hier in Lyon war in der letzten Vorstellung der Aufführungsserie nach dem Verklingen des letzten Tones ein Moment der Stille, der Betroffenheit, bevor dann großer Jubel im vollen Haus ausbrach, der sich auf alle Mitwirkenden erstreckte. Diese Aufführung hat wohl keinen Besucher kalt gelassen.

 Walter Nowotny

 

 

 

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