©Adelina Yefimenko
Wiederauferstehung nach Verbot und Vergessenheit: die erste szenische Premiere der ukrainischen Folk-Oper „Wenn der Farn blüht“ von Yevhen Stankovych an der Lemberger Staatsoper (Lwiw, Ukraine, 2017)
Jedes Volk pflegt seine Mythen. Jede Nation bewahrt ihre Historie, indem sie diese niederschreibt. Beinahe jeder Künstler spiegelt im Kunstwerk seine Suche nach der originären Identität in tiefer Verbundenheit zu seinem Heimatland wider. Deshalb hinterlässt jeder an Ursprünglichkeit (sowie Gegenwart und Zukunft) interessierte Künstler in seinem Erneuerungsstreben, avantgardistischen, postavantgardistischen Denken eigene Spuren über die archaische Quellen-Suche, das Wesen, den Glauben, die Riten und Geschichte seines Volkes. Die Suche verschiedener Vorfahren nach dem Heiligen Gral, Lapis philosophorum, dem Goldenen Vlies, der Formel für ewige Jugend, Terra Incognita, die im Ritus, der Philosophie und Kunst bisher vielfältig reflektiert worden waren, ergänzte der bekannte ukrainische Komponist Yevhen Stankovych (Jewhen Stankowytsch) in seiner ganz besonderen Art. Das Werk des ukrainischen Komponisten, der sein 75-jähriges Jubiläum erst kürzlich gefeiert hat, bringt seinen Zeitgenossen die Erkenntnis über denWillen zur nationalen Freiheit als die lebenswerteste Aufgabe nahe. Diese Erkenntnis hat Yevhen Stankovych geprägt, seine Absichtist, die Wahrheit über seine Zeit symbolisch, metaphorisch, gleichnishaft, allegorisch und lyrisch mitzuteilen. Seine Musik stellt zusammen mit weiteren Künstlern seiner Zeit – bedeutende ukrainische Komponisten,wie es Valentin Silvestrov, Miroslav Skorik, Vitali Gubarenko u.a.sind– die musikalische Generation der Sowjetischen Diktatur dar. Komponisten, die zuerst die Vernichtung und dann die moderneRenaissance der ukrainischen freien Gesellschaft erlebten, subjektivieren in ihrer Musik ganz verschiedenartig archaische Mythen, historische Volkstragödien, persönliche Reflektionen über die Wiedergeburt der ukrainischen Nation und ihren gegenwärtigen Kampf um die nationale Souveränität.
So wie früher Dmitri Schostakowitsch auch, komponierte Stankovych seine Oper nach Sujets Nikolai Gogols, deren rituelle Archaismen, Aberglaube, Dämonen und Naturphänomene, die allesamt die unendliche Schönheit, Bewunderung, Bezug zur vorchristlichen Archaik und Eigenartigkeit der ukrainischen Mentalität manifestieren.Yevhen Stankovych sagt,“Gogol,ist nicht nur als bedeutender ukrainischer Schriftsteller weltbekannt, sondern auch ein Entdecker des Lebens in Parallel-Welten. Neben Dante, Goethe und Bulgakow poetisierte er nicht bloß die mystische Atmosphäre in seinem Werk, sondern brachte auch die Erkenntnis über die Quantenphysik in die Weltliteratur.(Von ihm übrigens viel früher als von den Physikern begriffen).”(Quelle:https://day.kyiv.ua/uk/article/kultura/ievgen-stankovich-narodna-muzika-stala-chastinoyu-mene).
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Stankovych lehnt seine Opernkonzepte an die Gogol-Literatur an (z.B. seine zweite Oper „Eine schreckliche Rache“) als altertümliche, immer aktuelle Lebensphilosophie. Durch die folkloristischen Motive, Gattungen, Riten, Mysterien und Bilder wird ein Gesamtkunstwerk über das Geheimnis der Menschenseele in einer genuin kosmischen Dimension dargestellt. Diese Idee verbindet die geographischoder zeitlich voneinander weit entfernten Künstler. Die noch lebenden oder längst verstorbenen, stil- sowie satzungsmäßig unterschiedlich, jedoch ähnlich denkenden europäischen Komponisten wie Richard Wagner, Carl Orff, Nikolai Rimski–Korsakow, Igor Strawinsky, Bela Bartok, Jan Sibelius, Sergej Prokofjew, Dmitri Schostakowitsch, Boris Ljatoschinski, Miroslav Skorik u.a. haben diese Idee auf ihre individuelle Art und Weise verwirklicht.
Stankovych entwickeltein der Oper „Wenn der Farn blüht“die Stilrichtung des Neufolklorismus anders als Carl Orff oder Igor Strawinsky, die dabei ihre primitivrhythmischen oder primitivharmonischen Erfindungen unterschiedlich ausprobierten. Bei Stankovych kommt dieAusdrucksart des archaischen Klangs durch das Melos, das in einem Kontrast- und Konkurrenzverhältnis zur rhythmischen oder timbrierten Schärfe des Heroischen steht.
Im Orchester betonte Volodimir Sirenko, der Dirigent der Lemberger Staatsoper-Neuproduktion„Wenn der Farn blüht“ besonders diese kontrastierende Spannung, die durch die horizontal vorgetragene Intonierung des Liedhaften zur Geltung kam. Die herrliche Lyrik-Sphäre ukrainischen Folks-Melos untermalte das Orchester auf einer sanften, ruhigen, „irdisch- menschlichen“ Intonationsebene.
Der Komponist wies darauf hin, dass er sich in der Oper „Wenn der Farn blüht“ von demMelos der Zentral-Ukraine bzw. von der einzigartigen Mehrstimmigkeit des Saporoger Sitsch, also des Kosakentums einerseits und von Karpaten- oder Huzulen-Folklore andererseits, inspirieren ließ. Er vermittelte seine Faszination darüber, er sagte:„Ich war so sehr mit Volksmusik beschäftigt,dass sie ein Teil von mir selbst wurde, sie liegt in meinen Genen.“ (Quelle:https://day.kyiv.ua/uk/article/kultura/ievgen-stankovich-narodna-muzika-stala-chastinoyu-mene).
Stankovych verdankt seinem Musikhochschul-Professor Boris Ljatoschinski, der nicht nur sein Lehrer, sondern bis heute sein Vorbild blieb, die Erfahrung und das Verständnis der Musik als klanglich sinngebende Wahrheit. Der Komponist offenbart in der Gattung Oper sein Interesse an der Gogol-Vertonung, aber nicht durch Groteske, wie z.B. in Schostakowitschs „Die Nase“. In der Oper „Wenn der Farn blüht“ nach Gogols „Taras Bulba“ und „Die Johannisnacht“ aus „Abende auf dem Weiler bei Dikanka“ (1831/1832) verbindet der Komponist archaische Mysterien-Handlungen, Anbetungen der Naturphänomene und der Planeten mit Heroik, Freiheitsideen des eigenen Landes, Kämpfe mit Fremderoberern. Stankovych nennt zu jedem Planeten eine Vorstellung, die er durch eine lebendige Kreatur in ihren inneren Wesen darstellt.“Wir sind ein Teil unserer Erde”, so Stankovych,“wir atmen, pulsieren und klingen wie sie, da wir ein Teil von ihr sind…”(Quelle:https://day.kyiv.ua/uk/article/kultura/ievgen-stankovich-narodna-muzika-stala-chastinoyu-mene). Der Komponist hört diesen spezifischen Klang und verwirklicht dadurch seine Intonationsidee aus Sicht einer Synthese des ukrainischen Folkmelos mit improvisatorischer Polyphonie des Chorgesanges und zeitgenössischer Musiksprache im vielfältigen Timbre des Symphonieorchesters. Auch die Wahl der Gattung ist einzigartig. Die Folk-Oper „Wenn der Farn blüht“ wirkt stilistisch und akustisch zwiespältig. Ursprünglich wurde sie für den Folkschor mit den Solistinnen für Bruststimme (Nina Matviyenko) und Sopran (Olena Romaniv) komponiert. Stankovych erstellte sowohl eigene Kompositionen als auch einige Bearbeitungen von in der Ukraine bekannten Volksliedern, die mit der Aufführung in komplexen polymelodischen Schichten, dichten Fakturen, präzisen dynamischen Kontrasten und in der verzweigten symphonischen Dramaturgie des Timbres durchgedacht und durchkomponiert worden waren.
UkrainischeMusik-Wissenschaftler behaupten, dass Stankovych längst einen Durchbruch in der Operngattung, Opernsprache sowie Operndramaturgie geschaffen hatte. Dieser Durchbruch wurde jedoch von der damaligen sowjetischen Regime verboten und damit nicht nur vor der ganzen Welt, sondern auch vor der einheimischen Bevölkerung,vorenthalten. Das Werk wurde bis jetzt nie vollständig aufgeführt. Stankovychs Oper erlebte ein schlimmeres Schicksal als Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“. Vor Stalins offiziellem Verbot erreichten die ersten Aufführungen der „Lady Macbeth von Mzensk“ in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts einen weltweiten, kolossalen Triumph: inLeningrad, Moskau, Buenos-Aires, Cleveland, London, New York, Prag, Stockholm, Finnland, Zürich. Stankovychs Oper „Wenn der Farn blüht“, die im Auftrag der prominenten französischen Konzertagentur „Alitepa“ für die Weltausstellung in Paris komponiert worden war, blieb von Anfang an der Weltbühne fern.
Die Vorgeschichte war wie folgt. Die französischen Impresarios boten Anatoli Avdiyevsky, Chorleiter des Staatlichen Ukrainischen Volkschors Grigiri Werjowka an, sich eine Bühnenaktion zu Gogols Thema zu überlegen, in der die Motive des kurios populären amerikanischen Film-Sujets „Taras Bulba“ modern entwickelt würden. Dass ukrainische Tänze im Film damals mit russischen Liedern wie „Kalinka-Malinka“ begleitet worden waren, wies darauf hin, dass die Ukraine damals für Europa als eineigenständiges Land völlig unbekannt war. Der ukrainische Komponist zusammen mit einigen talentierten Künstlern seiner Zeit, dem Librettisten Olexander Stelmaschenko, dem Bühnenbildner Evgen Lysik und dem Choreographen Anatoly Schekera, änderten diese Situation entscheidend. Die Unbekanntheit ukrainischer Musik, Kunst und Kultur, sollte dank dem herausragenden originären neofolkloristischen Opernkonzept beendet werden. Die Konzertagentur „Alitepa“ plante nach der Premiere der Oper in der Ukraine (sie sollte in der Hauptstadt Kijiw, nach russischer Transkription als Kiew bekannt, an der größten Bühne des Palastes „Ukraine“ im Jahr 1978 stattfinden) über 25 Aufführungen in der Grand Opéra Paris. Die Uraufführung der vollständigen Oper „Wenn der Farn blüht“ fand aber nie und nirgendwo statt. Die sowjetische Zensur schaute die Generalprobe an, fand dieukrainischeOper zu nationalistisch, das Werk, so das Urteil war,verfremdete zu sehr den damals doktrinären sowjetischen Sozialrealismus. Die Uraufführung wurde am Tag der planmäßig vorbereiteten Premiere verboten. Die wunderschönen, teuren, stilistisch einzigartigen Dekorationen und Kostüme, angefertigt vom ukrainischen Bühnenbildner-Genie Evgen Lysik, wurden mit der Zeit vernichtet. Zum Glück überlebten einige Skizzen und Fotos.
Die gleichfalls bahnbrechende Musik Stankovychs“Wenn der Farn blüht“ fand später ihre Interpreten. Einer von ihnen – der jetzige Dirigent der Premiere in Lemberg, Volodimir Sirenko –führte die Oper konzertant in der Kiewer Philharmonie auf. Sonst wurde sie bisher immer nur in einzelnen Fragmenten gespielt. Der populärste Akt „Kupalo“ wurde auch szenisch bzw. als Ballett präsentiert. Aber die originäre Partitur der Oper mit Bühnenanweisungen wartete fast 40 Jahre auf ein Theater. Die Premiere der ersten vollständigen Bühnenfassung der Oper „Wenn der Farn blüht“ unternahm nach langen Jahren der Vergessenheit die Lemberger Staatsoper Solomiya Krushelnytska (Lviv). Intendant Vasyl Vovkun, Autor der Neuinszenierung „Wenn der Farn blüht“ bemerkte im Programmheft, dass mit der Premiere von „Wenn der Farn blüht“ die Verwirklichung des „ukrainischen Durchbruchs“ beginnt. „Wenn der Farn blüht“ eröffnet das Projekt der Wiederbelebung, Neuinterpretation und Popularisierung der Opern von ukrainischen Komponisten, deren bedeutsame Artefakte nicht nur in Westeuropa, sondern auch für viele Ukrainer bis jetzt unbekannt blieben. (Quelle: Das Opern-Programmheft der Lemberger Staatsoper, 2017; Redaktion Nadia Trusch).
Die Neuinszenierung Stankovychs„Wenn der Farn blüht“ (Musikalische Leitung: Volodymyr Sirenko, Regie: Vasyl Vovkun, Bühnenbild: Tadej Ryndsak, Kostüme: Anna Ipatijewa, Chorleitung: Vasyl Koval, Visual Konzept: Dmitro Ziperdjuk, Choreographie: Sergij Naenko, Artem Schoschin) wird nach der ersten Premieren-Reihe in das laufende Repertoire der Lemberger Staatsoper aufgenommen.
Der Regisseur Vasyl Vovkun und der Bühnenbildner Tadej Ryndsak reflektierten im Bühnenkonzept „Wenn der Farn blüht“ drei Zeit-Raum-Ebenen. So existieren nebeneinander eine zeichenhaft verfasste Archaik-, eine poetisch angestrebte Historie- und eine über die Zeit hinaus angestrebte Gegenwarts-Utopie. Die postmoderne, medienbezogene, festivalartige Szenerie spannt einen charakteristischen Bogen zur Lysik–Schekera-Inszenierung. Vasyl Vovkun hat in früheren Regiekonzepten seine eigene Zeichen-Sprache entwickelt, die sich in seinen Inszenierungen von Igor Strawinskys „Oedipus Rex“, Benjamin Brittens „War Requiem“ und Yevhen Stankovychs„Taras-Passion“ leitmotivisch erkennen lassen. Die darstellerisch und visuell monumentale Regie ermöglicht es, das originäre Folk-Oper-Konzept Stankovychs in neuen Gattungssynthese zu erleben durch ihre epische, statische, bildhafte und symbolische Deutung. Vasyl Vovkun transformiert damit die Folk-Oper in das Theatergenre der Féerie [“Zauberwelt”], das in den1870er-Jahrenbeliebt war. Ihren Schwerpunkt bildet die Gattung der Ballett-Oper. Den Chor, als kollektiven Hauptdarsteller der Folk-Oper, transponiert der Regisseur zum kollektiven Erzähler, der den Mythos und Historie des Volkes kommentiert und auslegt. Das Ziel der Regie war damit, diese Funktion des Chores der griechischen Tragödie nachzuempfinden. Gleichfalls wirkt äußerlich ein Teil des Chores als Sonnenpriester, der andere Teil als Krieger. Die Bewegungen und Gewänder der Chorsänger stilisieren quasi heidnische Sonnenpriester mit gegen den Himmel erhobenen Händen, eine bemerkenswerte Gestik, die altslawischen Kulten entlehnt ist. So nimmt vorwiegend die Bühnendramaturgie einen breiten Raum beim kollektiven Geschehen der Operndramaturgie „Wenn der Farn blüht“ ein, die dieMusikwissenschaftler zu Recht als eine Nicht-Vektor-Handlung betrachten, für die Opernarien und Duette nichtgeeignetsind (Juri Chekan). Die visuelle Darstellungslogik, die auf die Mosaik-Komposition und das Kontrast-Motto gründet, kombiniert die Szenen und Episoden, die Juri Chekan mit den originellen klassischen Methoden des poetischen Kinos vergleicht.
Als Schwerpunkt seiner Folk-Oper legt Stankovych besonderen Wert auf die authentischen Riten des Kupalo-Festes (der heidnischen Vorfahren aus der Johannisnacht). In der dreiaktigen Opern-Komposition „Kupalo“ besitzt der zweite Akt eine zentrale Bedeutung. In der choreographisch bewegten Bühnen-Liturgie der Neuinszenierung als Feerie bzw. als Ballett-Oper wurden Akte neu disponiert. Das „Kupalo-Fest“ stellt den Inhalt des ersten Aktes vor. Die Reihenfolge der Riten „Menschen-Kupalo“, „Jungfrauen-Kupalo“, „Hexen-Kupalo“ und „Farn-Blüte“ stellt in Musik, Tanz und Bild die Symbole des geheimnisvollen Mondes, Lebensbaums, Wasserquelle, Feuers der Liebe und orgiastischer Fruchtbarkeit dar, die im Kult-Fest szenisch verschmelzen.Die Feerie lehrt uns, die menschliche Natur als Wunder zu betrachten. Das Symbol der Farnblüte manifestiert die vitale erotische Liebe in der menschlichen Existenz zwischen dem Leben und dem Tod, die durch die Geburt eines Kindes einen Sinn bekommt. Die Gestalt des Kindes kommt erst imFinale zur Geltung, nach dem zweiten Akt „Heroik“. Die Szene wirkt wie eine Botschaft des Friedens. Die Erscheinung des Vaters (Michailo Malafij), der Mutter (Nina Matviyenko) und des Kindes stellen zusammen mit dem Chor die neue moderne Gesellschaft freier Ukrainer dar. Visuelle Symbole, mit denen Stankovychs Musiksprache Folks- und Avantgarde-Klangbilder grenzenlos verbindet, machen aus der Folk-Oper-Interpretation ein Ereignis und ein effektvolles Gesamtkunstwerk. Die westeuropäischen Opernhäuser konzipieren schon seit Längerem sehr erfolgreich solche Bühnenpraxis, die durch das Engagement berühmter zeitgenössischer Künstler, Designer und Choreographen einen programmierten Erfolg beim Publikum bewirkt. Als Beispiel seien die Interpretationen genannt von „Tannhäuser“ durch Romeo Castellucci, „Les Indes galantes“ durch Sidi Larbi Cherkaoui und die kommende Neuinszenierung von „Parsifal“ an der Bayerischen Staatsoper im Jahr 2018 mit Georg Baselitz sowie „Wozzeck“ von William Kentridge an den Salzburger Festspielen 2017.
Die Ballett-Szenen führen verschiedene Variationen der Rund- und Reigen-Tänze aus. Die Dynamik der Reigenbewegungen spiegelt die verschiedenen Rund-Symbole durch die Licht- und Bild-Installationen wider (den Mond, das Gottes-Auge, die Uhren,die “kreisende” Zeitmessung, die Sonne u.a.). Die neue Wahrnehmung der Folk-Oper von Stankovychstellt bei der Neuinszenierung eine gewisse Spannung zwischen den rituell archaischen Bildern (im 1. Akt „Kupalo“) und der heroischen Geschichte des ukrainischen Freiheitskampfs (im 2. Akt „Heroika“). Den Änderungen in der Akt-Reihenfolge stimmte der Komponist zu. Volodymyr Sirenko, ein hervorragender Interpret der ukrainischen und westeuropäischen Symphonik, einer der besten Interpreten Strawinskys Œuvre, schlug vor, der Operndramaturgie „Wenn der Farn blüht“ einen Zeit-Vektor „aus der Vergangenheit in die Zukunft“ hinzuzufügen. In den zweiten Akt „Heroik“ integrierte das Regie-Team scharfe Bilder der Freiheitskämpfer. Zitat:„Die Waffen werden gemeistert, die Muskeln werden trainiert, der Kampf wird ausbrechen, der Tod wird voranschreiten. Der Gegenwartsgeist ruft die alten tief spirituellen Konstanten aus sich heraus auf und preist das Heldentum und seinenhistorischen Kontext“, – so Vasyl Vovkun. Die Licht-Installation des Kriegsfeuers, symbolisch dargestellt durch die brennenden Reifen am Kijewer Maidan 2014,werden aber im finalen Lobgesang (im Volkslied „Freue sich, die Erde“/„RadujsjaSemle“) gelöscht und ins Positive verwandelt. Als Symbol der Renaissance der ukrainischen Nation kommt im Finale die Erwartung des Nachkömmlings (des Kindes, des Sohnes). Die Wandlung und Umkehrung der Tragödie des Ruins (Barrikaden, Wanddurchbrüche im Bühnenbild des 2. Aktes) zur Hoffnung auf eine kommende neue Gesellschaft prägen die Assoziationen zur Wagnerschen „Götterdämmerung“ sowie zu den Ideen der Freimaurer. Eine freie im Frieden und zu Ehren der Ahnen entstehende neue Gesellschaft wird in derstilisiertenAuthentik vonBildern und die Archaik der religiösen Kulte durch Symbole konkretisiert. Auch das alte Symbol des Lebensbaums erscheint in der Hinterbühnen-Projektion, die jauchzend romantisch auch in Walter von Stolzings Werbegesang in den „Meistersingern von Nürnberg“ erwähnt wird:
„Sei Euch vertraut, welch hehres Wunder mir gescheh’n: an meiner Seite stand ein Weib, so hold und schön ich nie geseh’n; gleich einer Braut umfasste sie sanft meinen Leib; mit Augen winkend, die Hand wies blinkend, was ich verlangend begehrt, die Frucht so hold und wert vom Lebensbaum“.
Die Heroik und der Sieg des zweiten Aktes führen im Finale zum Höhepunkt der Oper: das Bühnenbild, die rituelle Haltung und der oratorienartige Chorgesang drücken monumental und farbig die Wiederbelebung und Vitalität der nationalen Ideale freier und kreativer Menschen aus. Das musikalische Zitat aus der ukrainischen Folklore bestärkt ein Zitat des Bühnenbilds von Evgen Lysik – der Flug des Engels rund um die bunt blühende Erdkugel.
Die Farn-Blüte weist auf den Urglauben der Ukrainer an Naturwunder hin. Das Wunder der Farn-Blüte, die man nur einmal im Jahr während der Kupalo-Nacht (Johannis-Nacht) sucht und nie gefunden worden ist, gilt als Mythos oder als eine Art der altertümlichen Lebensphilosophie. Eine Besonderheit der ukrainischen Wahrnehmung des irdischen Kosmismus weckt die vorchristliche Religiosität und im Ritus das kollektive Unbewusste aufruft nach unerfüllten menschlichen und sozialen Idealen in den Quellen archaischer Gesellschaften zu suchen. Die Farn-Blüte ist ein Symbol der magischen und gleichfalls kraftvollen Lebenswirkung, die den Neubeginn einer freien Generation von Menschen versinnbildlicht.
In der ukrainischen Musikwissenschaft existiert die Meinung über die spezifisch ukrainische Einheit von Mikro- und Makrowelten als intuitiv erworbenes nationales Wahrnehmungsmodell der Harmonie von kosmischer und kordozentrischer Dimension. Diese Idee transportierte das Regie-Team der Lemberger Staatsoper ins Visuelle mit Hilfe von irdischen und galaxieartigen Licht- und Bild- Projektionen: z.B. durch effektvolle Widerspiegelungen von gleichen Bildern an der Bühnenrückwand und am Boden. Solche Motive fanden Zuschauer auch in nicht authentischen sondern zeichenhaften Kostümierungen, wie es bei Evgen Lysik der Fall war. Die quasi rituellen Gewänder des Chores und des Balletts kennzeichnen die hellen Farben der Gewänder guteWesen, dunkle Kostüme böse oder mystische Kräfte (Meerjungfrauen) und schwarz-rote Kleidung(in Hexen-Orgien) wurden durch die Stilisierung archaischer Tracht modern ergänzt. Insofern bildeten die zwei Akte der Neuinszenierung„Wenn der Farn blüht“ –„Kupalo“ und „Heroik“ – zwei Pole der nationalen, existenziell wichtigen Wahrnehmung der ukrainischen Geschichte und Gegenwart. Der Komponist philosophiert über diese Historie in seinen Klangvorstellungen und äußerte sich über die Musik treffend:„Wir alle sind mit unserer Zeit verbunden. Strawinsky so, dass seine Musik immer zeitgemäß bleiben soll, weil sie über und zu dieser Zeit komponiert worden war. Es gibt ein Konzept der „Intonation der Epoche“. Die Musik von Prokofjew oder Schostakowitsch, Bach oder Mozart ermöglicht es nicht nur, sich über die konkrete Epoche eine Vorstellung zu machen, sondern sie auch zu erlernen. Kunst hat die Fähigkeit, sich selbst immer neu zu beleben“. (Quelle:https://day.kyiv.ua/uk/article/kultura/ievgen-stankovich-narodna-muzika-stala-chastinoyu-mene).
Copyright: ©Adelina Yefimenko
Fazit. Jeder Komponist versucht seine Vorstellung von der Kontinuität der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Klang zu gestalten. Gleichfalls artikuliert der Musiker im Klang bzw. in der eigenen Klangsprache den Wert und die Würde seines Landes, das ihm die unbegrenzten schöpferischen Kräfte liefert. Diese Künstler ermöglichen es uns, echte Werte vor dem Vergessen zu bewahren. Die Klang-, Stil- undGattungsneuerungen spiegeln allgemeine und vielfältige Intentionen der Vollkommenheit und Harmonie eines erfüllten menschlichen Daseins in verschieden Ländern wider.So ist Stankovychs ukrainische Folk-Oper „Wenn der Farn blüht“ auch auszulegen. Die Neuproduktion der Lemberger Staatsoper eröffnete die erste Tür zu verschiedenen Interpretationen dieses bedeutenden Werks, das zum Kulturerbe der europäischen Musikgeschichte zählt und gehört.
©Adelina Yefimenko