Luzern: Lucerne Festival 2019 – Ausgewählte Konzerte – Teil 3
DON GIOVANNI, konzertante Aufführung, 15.9.2019
Dramatische Wucht bei aller Detailarbeit
Waren bei der konzertanten Aufführung von „Le Nozze di Figaro“ vielleicht noch Unausgewogenheiten in der Besetzung (vor allem beim Grafenpaar) und ein enormes Tempo in den ersten beiden Akten festzustellen, so waren bei der halbszenischen Wiedergabe des „Don Giovanni“ keinerlei Vorbehalte mehr anzubringen. Sicher ist eine Stimme immer eine Geschmackssache, aber die durchwegs ausgewogene Qualität der Sängerinnen und Sänger war aussordentlich. Was aber in diesen vier Stunden Musik einen nicht mehr losliess, war das Dirigat von Teodor Currentzis. Schon zu Beginn liess er den Saal ganz abdunkeln, nur die Partitur auf dem Notenpult des Dirigenten war beleuchtet. So wirkte der D-Moll-Akkord der Ouvertüre und somit der Auftritt des Jenseitigen mit einer Wucht, wie man sie an diesem Werk schon lange nicht mehr gehört hatte. Da wurden Erinnerungen an die Unbarmherzigkeit in der Interpretation von Otto Klemperer oder auch in der Hitzigkeit eines Ferenc Fricsay wach. Und dann ging’s los mit einer dramaturgischen Zielstrebigkeit, die einen kaum noch atmen liess. Es gab auch „Verschnaufpausen“, die jedoch kein Nachlassen der Spannung vermittelten, sondern ganz in das Gesamtkonzept dieser Aufführung eingebettet waren. Dies war der Fall beim Racheschwur der arg getroffenen und aufbegehrenden Donna Anna, die von Don Ottavio nur schwer beruhigt werden konnte, beim Auftritt der wütenden Donna Elvira mit ihrer Arie mit den an die Barockoper angelehnten Rhythmen, dann die äusserst zynische Registerarie, wo Leporello fast zum Abbild seines eigenen Herrn wurde. Und so ging es den ganzen Abend hindurch weiter.
Bei aller Strenge in der Dramatik des Fortschreitens der Handlung gab es auch Ruhepunkte wie zum Beispiel die Arien der Zerlina und die von Don Ottavio. Das Finale des 1. Aktes wurde von allen Mitwirkenden unter dem umsichtigen, alerten Dirigat von Currentzis zu einem wahren Klang-Tsunami. Als das Volk den Saal zum Fest Don Giovannis stürmte, wurde ein Transparent mit dem Schlagwort „Viva la libertà!“ (so in der Partitur von Mozart komponiert!) entrollt, das nicht ohne aktuelle Wirkung blieb, zudem der Chor der musicAeterna ja aus Perm stammt. Don Giovanni liess dieses aber kurzerhand rauswerfen. Diese Geste kann durchaus als Macht-Demonstration im Sinne des Lucerne Fesitvals verstanden werden, das sich ja „Macht“ als sinngebendes Motto der diesjährigen Veranstaltungen gegeben hatte.
Die konzertante Aufführung hatte durchaus die Qualität einer vollen Bühnenaufführung, obwohl es keine Dekorationen gab und die Handlungen nur angedeutet waren. Was nötig war, ergab sich aber wie von selbst und mehr war eigentlich auch gar nicht nötig. Es war sogar befreiend, einmal nicht durch übergestülpte Sichtweisen an der Wahrnehmnung der Musik gestört zu werden. Und es gab durchaus auch Momente, wo Currentzis „interaktiv“ in die Handlung eingriff und dies mit Humor tat. Dabei bewegte er sich frei weg vom und um das Dirigentenpult, sodass die Illusion aufgehoben und das Prinzip „Theater“ immer sichtbar blieb. Das hat mich sehr beeindruckt.
Currentzis musizierte mit seiner fabelhaften musicAeterna (immerhin acht erste Geigen, Naturhörner, zum Continuo ein Hammerklavier etc.), wozu die Musikerinnen und Musiker zum Spielen aufstehen, sich aber bei den Secco-Rezitativen setzen dürfen.
Das Ensemble war – wie gesagt – ausgewogen: Es gab eine ungemein intensive Donna Anna in der zierlichen Person von Nadezhda Pavlova, die mit ihren Arie „Or sai chi l’onore“ wahre Begeisterungsstürme auslöste. In der zweiten Arie „Non mi dir“ überzeugte sie durch glasklare Koloraturen. Als ihr Partner war der lyrische Tenor Kenneth Tarver dabei, der die nachkomponierte Arie „Dalla sua pace“ sehr schön sang, was er auch bei „Il mio tesoro“ tat, konnte aber im dramatischen Mittelteil zu wenig stimmliches Potenzial aufweisen. Federica Lombardi war schon von der Erscheinung her eine beeindruckende Donna Elivra und sang ihre Arien, vorallem die nachkomponierte „In quali eccessi“ hervorragend. Als dritte Sopranistin im Bunde war Christina Gansch eine ausgezeichnete Zerlina, sang ihre beiden Arien wirklich herzerwärmend und konnte durchaus auch Stimme geben, als sie im Finale des 1. Aktes von Don Giovanni „bedrängt“ wurde. Ihr Masetto war der sympathische Ruben Drole, der mit seinem weichströmenden Bass den gutmütigen Bauern verkörperte. Hervorragend war Kyle Ketelsen als wendiger Leporello, der auf die althergebrachten Mätzchen verzichtete und dafür ein interessanter Diener – „che vuol‘ fare il gentiluomo“ – war. Er sang perfekt und war seinem Herrn stimmlich nahezu überlegen. Dieser war mit einem Bariton besetzt und zwar mit Dimitris Tiliakos, der den spanischen Edelmann elegant, doch aber recht machohaft rüberbringen konnte: ein echter Spanier. Er sang facettenreich und die Serenade in einem perfekten Piano, wobei er von der musicAeterna und mit Gitarrenbeleitung in magischem Klang unterstützt wurde, und die Champagnerarie in einem „Höllentempo“ sang, was meinen italienischen Sitznachbarn zum Aufschrei „È strepitoso!“ veranlasste. Als „zur Ordnung rufender“ Commendatore wirkte Robert Lloyd, der dies in bläulicher Beleuchtung von der Orgelempore herab tat. Mit der rasanten Höllenfahrt beschloss Currentzis die Aufführung, also die Prager Version. Um dann nach der ersten Applausordnung gleich noch das Sextett der Wiener Fassung anzuschliessen! Da hier nun auch die Sänger des Don Giovanni und Commendatore dabei waren, sangen diese mit, sodass aus dem Sextett ein Oktett wurde. Dies ist auch berechtigt, da die Figuren bei diesem Ensemblesatz aus ihrer Rolle heraustreten und sich dabei direkt an das Publikum wenden. Eine überzeugende Lösung!
Nach diesem „Don Giovanni“, dem am nächsten Tag noch „Cosi fan tutte“ folgte, war man tief beeindruckt von der Ausdruckskraft und dem unbedingten Willen von Teodor Currentzis, Mozart mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu seinem Recht zu verhelfen. Dass dies eine dramatische Wucht hat, wurde einem wieder einmal mehr bewusst. Auf keinen Fall hat das was mit süssen Mozart-Kugeln zu tun…
John H. Mueller