LÜBECK 15.3. 2025.: „DER ZAUBERTRANK“ (Le Vin herbé) – Eine etwas andere musikalische „Tristan“-Mär von Frank Martin
Foto: Olaf Malzahn
Wenn Wiener Opernfreunde der Oper wegen nach Lübeck pilgern, muss es schon etwas Besonderes auf sich haben. Backsteingotik und das berühmte Lübecker Marzipan zum Drüberstreuen, o.k. Aber der eigentliche Anstoß war die euphorische Kritik der „Tristan“-Inszenierung am Lübecker Stadttheater von unserem Hamburger Merker-Kollegen Wolfgang Schmitt im letzten Heft. Da konnte es Sieglinde Pfabigan natürlich nicht lassen, ihrer voluminösen „Tristan“-Statistik noch eine weitere Aufführung hinzuzufügen! (Mit meiner Wenigkeit als Verstärkung …)
Ein besonderes A-tout aber war parallel dazu die Premiere einer Komposition mit dem deutschen Titel „Der Zaubertrank“ (Le Vin herbé) des Schweizer Komponisten Frank Martin (1890-1974). Es handelt sich dabei ebenfalls um die Geschichte von Tristan und Isolde“, die sich zwar archaisch gibt und dennoch erst rund 75 Jahre nach der Wagner-Oper im Jahr 1938 geschrieben wurde. Das Libretto übernahm der Komponist nahezu wörtlich aus drei Kapiteln der 1900 entstandenen Novelle „Le roman de Tristan et Iseut“ des französischen Romanciers und Professors für mittelalterliche Literatur, Joseph Bédier (1864-1938), unter Verwendung der Übersetzung von Rudolf Binding (1867-1938).
Obwohl Frank Martin viele Orchesterwerke und kammermusikalische Stücke schrieb, ist er im hiesigen Konzertrepertoire so gut wie gar nicht vertreten. Eines seiner bekanntesten Werke ist die 1948 entstandene „Petite Symphonie Concertante“ für Harfe, Cembalo, Klavier und zwei Streichorchester.
Am 15. September 1890 als jüngstes von zehn Kindern einer calvinistischen Pfarrersfamilie in Genf geboren, versuchte sich Frank Martin bereits mit acht Jahren an ersten Kompositionen. Doch nach seinem Abitur studierte er zunächst Mathematik und Naturwissenschaften, ehe er sich 1910 endgültig der Musik zuwandte und sich mit unterschiedlichen Stilrichtungen wie Wagner, Franck, Debussy un d Ravel auseinandersetzte. Einen ganz entscheidenden Impuls erhielt er von der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs. Sein eigener Kompositionsstil ist durch eine unverwechselbare Chromatik, Harmonik und Rhythmik geprägt.
Das in seiner Auffassung kammermusikalische, weltliche Oratorium „Le Vin herbé“ (Der Zaubertrank) für 12 Solostimmen, 7 Streicher und Klavier, mit dem Frank Martin der internationale Durchbruch gelang, erfuhr seine konzertante Uraufführung 1942 in Zürich und eine szenische Uraufführung zu den Salzburger Festspielen 1948.
In der halbszenischen Aufführung der Lübecker Kammerspiele, die von Jenifer Toelstede offensichtlich ganz im Sinne des Komponisten eingerichtet und von Jens Ponath dramaturgisch umgesetzt wurde, kam man diesen Vorgaben genauestens nach. Das auf Kammerspielgröße reduzierte Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck bestehend aus 2 Violinen, 2 Violen, 2 Violoncelli und einem Kontrabass, stand unter der energischen und präzisen Leitung des rührigen israelischen Pianisten und Dirigenten Nathan Bas am Klavier, der am Theater Lübeck als 2. Kapellmeister engagiert ist. Die relativ schmale Spielfläche, die sich in zwei Ebenen, dem unmittelbaren Vordergrund und weiter hinten sozusagen der 2. Reihe, aufteilt, ist bis auf wenige sinnstiftende Requisiten leer. Das Bühnenbild mit einigen wenigen charakteristischen Attributen wie etwa die glitzernden Regenschirme, die u.a. höfische Pracht symbolisieren, die Videoeinspielungen, beispielsweise zur Veranschaulichung des Waldes von Maurois, sowie die zeitgemäße Alltagskleidung des Chores mit stilistischen Details über Charakter oder Situation ihrer jeweiligen Träger stammen von Iris Braun. Die differenzierte Lichtregie besorgte Daniel Thulke.
Der Chor ist – wie einst in der griechischen Tragödie – hier das tragende Element der gesungenen Erzählung. Diese beginnt feierlich mit den Worten: Ihr Herren, wollt Ihr hören ein schönes Lied von Liebe und Tod? Das Lied von Tristan und Isôt, der Königin. Hört zu, wie sie sich liebten, in großer Lust, in großem Kummer, und daran starben am gleichen Tag, er durch sie, sie durch ihn.“
Sodann lösen sich die einzelnen DarstellerInnen aus dem Kollektiv, wie es die Szene erfordert; das Ensemble tritt in den Hintergrund zurück, geht ganz ab oder spielt jeweils die Bevölkerung oder die Besatzung des Schiffes, welches Isolde bzw. Isôt die Blonde von Irland nach Cornwall bringt. Am Ende ihres Auftritts treten die Einzelgestalten wieder in den Chor zurück. Das schafft eine objektivierende Distanz zum historisch empfundenen Geschehen, weshalb der Betrachter in diesem Werk irrtümlich durchaus eine Vorform oder Quelle zu Wagners „Tristan“ vermuten könnte. Sozusagen ein Spiel mit der Zeit.
Dennoch stellen sich auch Momente der Unmittelbarkeit ein. Insbesondere im intensiven Spiel der beiden Hauptfiguren, der junge Tenor Noah Schaul als Tristan und die griechische Sopranistin Evmorfia Metaxaki als Isôt die Blonde. Noah Schaut hat einen klanglich sehr schönen klaren, geschmeidigen Tenor. Er könnte seiner natürlichen Erscheinung nach ein junger Mann von heute sein. Doch er vermag sein Spiel zu steigern von der anfänglichen Unauffälligkeit zur erwachenden Liebe zu Isôt bis zu seinem erschütternden kampfverwundeten Sterben im vergeblichen Warten auf – die richtige – Isolde. (In der Tags darauf gespielten Wagner-Oper spielt er Melot, Einen Hirten sowie Einen jungen Seemann und fällt auch da stimmlich sehr angenehm auf.)
Emorfia Metaxaki ist selbst im Unterrock mit Gummistiefeln in der Wildnis des Waldes von Maurois, wohin sich die Liebenden vor dem Zorn König Markes geflüchtet haben, von edler Schlichtheit und dennoch jeder Zoll eine Königin. Und von ihrer großen wohlklingenden Stimme her sowieso. In ihrer Jugendlichkeit strahlen beide Liebenden eine Unschuld aus, die das Schwert zwischen ihnen im Schlaf als Beweisstück gar nicht gebraucht hätte.
Diese Liebe entsteht im Ersten Teil des Oratoriums unmittelbar nach dem Genuss des Liebestranks. Er wird von der Altistin Frederike Schulten als Isôts Mutter höchst professionell und chemisch genau hergestellt, was ihre Tracht als Rotkreuzschwester noch visuell unterstreicht. Der Trank soll der irischen Prinzessin und König Marke in der Hochzeitsnacht zu gegenseitiger Liebe verhelfen und wird der Dienerin und Gefährtin Isoldes, Brangäne, zur geplanten Verwendung anvertraut. Diese lässt es allerdings an der notwendigen Sorgfalt fehlen, und so wird der Trank in einem unbeobachteten Moment den beiden jungen Leuten, die sich an einem Tisch gegenüber sitzen, versehentlich als Erfrischung serviert. Als sie sich dann in die Augen sehen, erkennen sie ihre Liebe zueinander und vergessen alles rings um sie her. Die ob ihrer Nachlässigkeit verzweifelte Brangäne wird bei Frank Martin von einer Sopranistin gesungen. Andrea Stadel aus dem Lübecker Ensemble hat in dieser Rolle ihren großen Auftritt. Sie verkündet ahnungsschwer, dass Tristan und Isôt mit dem Trank nicht nur ihre Liebe, sondern auch den unausweichlichen Tod getrunken hätten.
Der Zweite Teil trägt den Titel „Der Wald von Maurois“. Hier leben Tristan und Isôt asketisch in der Wildnis. Aber Jacob Scharfman als König Marke findet sie doch, beobachtet sie im Schlaf mit dem Schwert dazwischen und kündet mit vollem wohlklingenden Bass von ihrer Unschuld und seiner Vergebung, ehe er sich taktvoll wieder davonmacht. Beim Erwachen erkennen Tristan und Isolde am von Marke zurückgelassenen Schwert seine Großmut und ihre Untreue ihm gegenüber. Eine gewisse praktische Sichtweise lässt sie sich auch darüber im Klaren werden, dass weder Tristan seine Ritterkarriere weiterverfolgen noch Isôt ein standesgemäßes Leben als Königin führen kann. Sie beschließen ihre Trennung: Isôt kehrt zu König Marke und Tristan in sein Heimatland zurück.
Der Dritte Teil lautet „Der Tod“. Tristan kämpft erfolgreich als Ritter für seinen Landesherrn Herzog Hoël, dargestellt von dem jungen vielversprechenden niederländischen Bassbariton Timotheus Maas. Dieser schenkt ihm zum Dank für die Rettung seines Landes seine Tochter Isôt die Weißhändige zur Frau. Sie wird dargestellt von der Südtiroler Mezzosopranistin Delia Bacher, die am Salzburger Mozarteum Gesang und Gesangspädagogik studiert hat. (Man sieht und hört es auch, dass Operndirektor Stefan Vlada mit seinem Team ein ausgeprägtes Gespür für schöne junge Stimmen hat, die im Lübecker Ensemble offenbar auch eine künstlerische Geborgenheit zu ihrer optimalen Entfaltung finden.)
Isôt die Weißhändige kann Isôt die Blonde jedoch nicht aus Tristans Herzen verdrängen, was sich auch szenisch in der Spiegelbildlichkeit des Hintergrundes manifestiert. Als Tristan in einem Kampf tödlich verletzt wird, offenbart er sich seinem treuen Freund Kaherdin, sehr berührend dargestellt von dem Tenor Mark McConell, indem er ihn bittet, Isôt der Blonden einen Ring als Zeichen seiner beständigen Liebe zu ihr zu überbringen. Falls sie in Kaherdins Schiff zu ihm kommen würde, solle dieser ein weißes Segel setzen. Die weißhändige Isôt, die das Gespräch belauscht hat, belügt den sterbenden Tristan und sagt, das Segel sei schwarz. Da gibt sich Tristan auf und stirbt. Dieses Sterben und die Vertrautheit mit dem getreuen Kurwenal, der hier Kaherdin heißt, bilden einen höchst gefühlvollen darstellerischen Höhepunkt der Aufführung. Ebenso Isôt die Blonde, die zu spät kommt. Nachdenklich überblickt sie die Situation und steht für einige Minuten der anderen Isôt gegenüber. Dann legt sie sich still neben den toten Tristan und stirbt.
In weiteren Solopartien kommen die Chormitglieder Elizaveta Rumiantseva, Sopran, Emi Nakamura, Alt, Wonjun Kim, Tenor und Viktor Aksentijević, Bass positiv zur Geltung. Und völlig unbekümmerte Lebendigkeit geht von dem kleinen Mädchen Mia-Maria Glogger aus, das (scheinbar) ohne jeden Grund mit ihrem Spielzeug über die Bühne hüpft.
Im „Epilog“ verkündet das ganze Ensemble in seiner Geschlossenheit die Hoffnung, dass dieses Spiel allen Liebenden Trost gegen die Schmerzen der Liebe spenden möge. Es ist zumindest beim Publikum, das reichlich Beifall spendete, sehr gut angekommen und stellt zu Wagners Tristan einen höchst interessanten Kontrast dar.
Ursula Szynkariuk