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LUDWIGSBURG/ Theater im Forum: MORD IM ORIENT-EXPRESS. Rache auf Ballett-Spitze

09.10.2017 | Ballett/Performance

Ludwigsburg

„MORD IM ORIENT-EXPRESS“ Ballett 8.10.2017 (Theater im Forum) – Rache auf Ballett-Spitze!

Orient Express (c) Bettina Stoess (2)
Lois Martens, Diogo de Oliveira, Mattheus Vaz und Simone Dale. Copyright: Bettina Stöß

 Ein außergewöhnliches Tanz-Projekt brachte das auf Einladung der Kulturgemeinschaft Stuttgart erfolgte Gastspiel des NRW Juniorballett mit der Uraufführung und dieser besprochenen Folgevorstellung ins Ludwigsburger Forum-Theater, ehe nach weiteren Stationen in kleineren Städten die Premiere in Dortmund, an dessen Compagnie dieses junge Ensemble angeschlossen ist, erst im April 2018 erfolgen wird. Zugpferd für den guten Besuch der beiden Aufführungen dürfte neben dem verlockenden Thema vor allem Demis Volpi gewesen sein. Der Argentinier wurde jüngst als Nachwuchskünstler des Jahres von der Zeitschrift „Opernwelt“ für seine Stuttgarter Inszenierung von Brittens „Tod in Venedig“ ausgezeichnet und hatte sich in den vergangenen Jahren als Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts einen großen Namen gemacht. Nachdem sein Vertrag völlig überraschend mit Ende der letzten Saison aufgelöst wurde, kann der 31jährige nun Projekte als frei arbeitender Künstler umsetzen.

Aus der ursprünglichen Idee des Orient-Expresses als besonderer Zug konkretisierte sich schließlich die Beschäftigung mit dem berühmten Kriminalroman von Agatha Christie, durch den der als Verbindung von Ost und West, von Abendland und Morgenland und als Völker verbindende Instanz bedeutungsvolle Zug ein literarisches Denkmal erhalten hat. So ungewöhnlich ein Krimi als Vorlage für ein Ballett zunächst erscheinen mag, mit jeder fortschreitenden Minute der Choreographie wissen Volpi und seine drei ins Boot geholten Co-Tanzschöpfer Xenia Wiest, Juanjo Arqués und Craig Davidson vom Gegenteil zu überzeugen. Sein Talent, ein Bühnenwerk in allen Komponenten gesamtheitlich zu verdichten und zu magischer Wirkung zu bringen, hat er in seinen Handlungsballetten wie auch den ersten Operninszenierungen nachdrücklich bewiesen.

Orient Express (c) Bettina Stoess (4)
Daniel Leger und Mauela Souza. Copyright: Bettina Stöß

Obwohl Christies 1934 entstandenes Buch eine konkrete Geschichte hat (12 der Familie eines entführten und ermordeten Kindes nahestehende Personen vereinbaren sich im Orient-Express auf der Fahrt von Istanbul nach Calais zu einem Racheakt am Hauptdrahtzieher des Verbrechens, der bislang unentdeckt und straffrei geblieben ist), kann diese Übersetzung ins Tänzerische nicht als Handlungsballett im klassischen Sinn verstanden werden. Gegenstand der Auseinandersetzung ist nicht die lineare Nacherzählung des Falles, sondern ein aus verschiedenen Perspektiven beleuchtetes Spiel mit den Metaphern Täter, Opfer, Schuld, Sühne und nicht zuletzt der Örtlichkeit des Zuges, der aufgrund von Schneeverwehungen an der Weiterfahrt gehindert und somit zum Niemandsland wird. In diese mit vielen Fragen behafteten Landschaftsbetrachtungen sind die objektiven Sichtweisen des Opfers, des Detektivs (Hercule Poirot), der Zeugen und der/s Täter/s eingestreut. In 80 pausenlosen Minuten ziehen Volpi und seine Mitstreiter den Zuschauer mit Hilfe von einer gewohnt äußerst subtil ausgewählten musikalischen Bandbreite zwischen Jazz-Elementen, Minimal music, unheilvoller Filmmusik bis hin zu atonalen Klangkulissen in die dichte Atmosphäre eines außergewöhnlichen Kriminalfalles hinein. Dazu trägt auch das so einfache wie faszinierende, von Bonnie Beecher ausgeleuchtete, Bühnenbild (ebenso wie die auf schwarz, weiß, beige und rot konzentrierten Kostüme) von Tatjana van Walsum  bei – ein hochästhetischer Raum mit vielen würfelförmigen Teilen, die in verschiedenen Größen von den Tänzern immer wieder neu zusammengesetzt werden und in denen sich diese spiegeln. Mal sind es schlichte Sitzmöbel, mal Gepäckstücke oder Horte des Geheimnisses. Als konkretes Detail aus Christies Roman geht für kurze Momente eine Gestalt in jenem roten Morgenmantel über die Bühne, der Poirot in der Mordnacht verwirren soll. Anfangs imitieren zwei Tänzerinnen den stampfenden Rhythmus der Lokomotive. Später markieren flackernde Taschenlampen die verwirrende Suche nach dem Täter. Obwohl die Choreographen aus völlig verschiedenen Richtungen kommen, macht sich kein stilistischer Bruch bemerkbar. Mehr oder weniger gleiten die Bewegungs-Muster wie Impulse in die jeweils nächste Szene, werden aufgegriffen und wieder neu verarbeitet. Die klassische Basis bleibt dabei sichtbar, ganz besonders in den kurzen Pas de deux, die sich mit Gruppen in verschiedener Größe abwechseln. Zum Höhepunkt kristallisiert sich der Racheakt, der sich durch Tanz in einer ungeahnten Vielschichtigkeit des Attackierens auszeichnet. Jeder der 12 Zeugen rechnet mit dem Entführer und Mörder auf seine Weise ab, eine sogar auf Spitze – daraus entsteht eine Abfolge von knappen Pas de deux, die an so manch virtuoses Duo aus dem Oeuvre des Choreographen erinnern und so brillante Tanzkunst mit einem Reichtum an Formen vereinen. Der letzte presst den Kopf des Opfers so lange zusammen, bis er tot zu Boden stürzt.  Die Frage nach der Auflösung bzw. der Schuld bleibt im Gegensatz zum Roman, wo Poirot zwei Lösungen anbietet, im Raum als großes Fragezeichen stehen.

Orient Express (c) Bettina Stoess (6)
Lois Martens und Nikita Zdravkovic. Copyright: Bettina Stöß

Den 12 Tänzern des NRW Juniorballett, das auf Initiative des Dortmunder Ballettdirektors Xin Peng Wang 2014 installiert wurde und dem Nachwuchs die Praxis- und Erfahrungssammlung an der Seite der Haupt-Compagnie ermöglicht, sind zwar keine konkreten Rollen oder Charaktere bzw. Soli zugeordnet, sie verdienen aber trotzdem namentlich genannt zu werden: Ester Ferrini, Victoria Graßmugg, Lois Martens, Jana Nenadovic, Yume Okamo, Beatrice Rosi, Manuela Souza, Giovanni Cusin, Simone Dalè, Daniel Leger, Diogo de Oliveira, Matheus Vaz und Nikita Zdravkovic .

Anhaltende Ovationen für sie alle im fast ausverkauften Haus.

Udo Klebes

 

 

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