Martin Kaleschke beim Orgelherbst in der Stadtkirche am 18.9.2022/LUDWIGSBURG
Spielerisch-kunstvolle Verschmelzung
Wieder konnte man ein eindrucksvolles Konzert beim Ludwigsburger Orgelherbst erleben. Der Organist Martin Kaleschke interpretierte zunächst das Präludium fis-Moll BuxWV 146 von Dietrich Buxtehude, wobei der subtile Klangfarbenreichtum dieses Werkes ansprechend zu Gehör kam. Geniale Regellosigkeit und Erfindungskraft triumphierten hier immer wieder in erstaunlicher Weise – und auch die chromatischen Verzierungen wurden präzise eingefangen. In kontrapunktischer Hinsicht wirkte alles ausgesprochen bewegt. Dazwischen erklangen mit suggestiver Cluster-Bildung und großem Klangzauber „Standlinien I, II und III“ des 1956 geborenen avantgardistischen Komponisten Michael Reudenbach, wobei die graziös-atonale Harmonik in besonderer Weise hervorblitzte. Aus dem dritten Teil der Klavierübung spielte Martin Kaleschke „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr“ manualiter BWV 676 sowie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ manualiter BWV 687 von Johann Sebastian Bach, wobei Kaleschke auf die thematischen Verbindungslinien besonderen Wert legte. Selbst geheimnisvolle polyphone Kraftströme waren bei dieser Wiedergabe immer wieder herauszuhören, deren verinnerlicher Stil die Zuhörer beeindruckte. Und auch die kernige Kraft der Themen und Klangformen kamen nicht zu kurz – und die hohe Spiritualität der Gedanken und Gestalten fesselten die Zuhörer immer wieder ungemein. Höhepunkt war zuletzt die imponierende Wiedergabe der dritten Symphonie fis-Moll op. 28 von Louis Vierne, der im Jahre 1870 fast völlig blind geboren wurde. Seine satztechnisch meisterhaften Kompositionen grenzen deswegen an ein Wunder. Dieses Werk entstand im Jahre 1911 in der Normandie. Diese Symphonie hebt wie bei Alexandre Guilmant mit einer einstimmigen Linie an, die Martin Kaleschke ausdrucksstark hervorhob. Auch die akkordische Dialog-Antwort gelang dem Organisten dabei sehr überzeugend. Wie kunstvoll Vierne diese gegensätzlichen Elemente verarbeitete, brachte Martin Kaleschke sehr gut zu Gehör. So verlor der harmonisch spannungsreiche Sonatensatz hier nie seine Klarheit. Die lyrische „Cantilene“ des zweiten Satzes gibt dem Oboenregister der französischen Nachbarock-Orgel viel Raum zur Entfaltung, was Kaleschke facettenreich unterstrich. Auch das fast skurrile Intermezzo in D-Dur faszinierte bei dieser Interpretation als dialogisch konzipiertes Stück. Dem erfrischenden Scherzo-Gedanken folgte hier ein betont ruhigerer Abschnitt. Und auch die Dur-Moll-Schattierungen des Adagios arbeitete Martin Kaleschke mit großer Deutlichkeit heraus. Der Charakter der „unendlichen Melodie“ faszinierte die Zuhörer. Im Finale triumphierte dann die Perpetuum-mobile-Bewegung, wobei der Geist der französischen Orgeltoccata hervorblitzte. Das unentwegt vorwärtsdrängende erste Thema korrespondierte einfühlsam mit dem gesanglichen zweiten Thema in spielerisch-kunstvoller Verschmelzung. Hier gab es auch Assoziationen zu Charles-Marie Widor. Vor allem das symphonische Crescendo in der Oberstimme gelang Kaleschke glänzend. Die beiden Themen wanderten im Finale virtuos durch alle harmonischen Lagen.
Alexander Walther