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LUDWIGSBURG/ Gastspiel Staatstheater Karlsruhe: LA BOHEME – Mimi in einer Doppelrolle

15.04.2016 | Oper

Puccinis „La Boheme“ mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe im Forum am Schlosspark Ludwigsburg

MIMI IN EINER DOPPELROLLE

Giacomo Puccinis „La Boheme“ mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe am 14. April 2016 im Forum am Schlosspark/LUDWIGSBURG

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Copyright: Falk von Traubenberg

Die Regisseurin Anna Bergmann hat die Rolle der Mimi in zwei Personen aufgeteilt – und zwar als Sängerin und als Schauspielerin. Die Diskrepanz zwischen der Schönheit der Musik und der Härte des Lebens steht hier im Mittelpunkt. Zu Beginn des ersten Bildes befinden sich die vier Künstler in einer prekären Ausgangssituation, weil das Geld immer knapp ist. Die Geschichte der Mimi wird von Anna Bergmann als extreme Leidensgeschichte erzählt, es geht um Krankheit und Tod einer einsamen Frau. Die sie umgebenden Männer gehen mit ihrer Situation eher feixend um. Anna Bergmann möchte Mimi in ihrer Inszenierung nicht als makellos-reine Frau zeigen, wie es Puccini vorschwebte, sondern auch ihre moralischen Schwächen beleuchten. So wird ein Dialog mit einem Mann eingebaut, der ihre Brüste sehen will und dafür Geld bezahlen soll. Anna Bergmann stellt die Figur der Mimi allerdings in den Mittelpunkt und möchte ihr mehr Raum geben, was stellenweise auch gelingt. Durch die Verdoppelung der Figur kommt ihre ganze Vielschichtigkeit zum Ausdruck. Der Zuschauer kann zwischen einer realen und einer Traumebene wechseln, denn die wandlungsfähige Schauspielerin Jana Schulz zeigt dem Publikum eine realistische Mimi. Und die Liebesbeziehung zu Rodolfo wird zu einem Sehnsuchtstraum.

Das gesamte zweite Bild zeigt eine surreale Welt voller Liebespaare, die zu den stärksten visuellen Eindrücken dieser Inszenierung zählt. Vor dem vierten Bild kommt es zum gesprochenen Monolog von Mimi. Die Videoprojektionen von Sebastian Pircher bestehen aus vorproduziertem und live gefilmtem Material. Das Vergrößerungsglas präsentiert grausam die Opern-Mimi als Gegenpol zu einer schlimmen sozialen Situation, aus der es keinen Ausweg gibt. Mimi ist bei Anna Bergmann auch eine Frau, die eine große Sehnsucht hat. Die Sängerin verkörpert den leidenschaftlichen Gesang, der bei der voluminösen Wiedergabe von Agnieszka Tomaszewska voll zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zum körperlich-hingebungsvollen Spiel der Schauspielerin besitzt die Sängerin eine eher entrückte Spielweise. Mimi ist hier aber eindeutig ein starker Charakter. Sie geht zu Rodolfo und trifft die grundlegenden Entscheidungen. Rodolfo ist zwar gut zu ihr, kann ihr aber nicht wirklich helfen. Und im dritten Bild ist er nicht in der Lage, seine Eifersucht zu zähmen. Das kann Anna Bergmann gut verdeutlichen. Sie macht außerdem klar, dass auch das Leben der Künstlerfiguren Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard alles andere als gesichert ist. Die ausgelassene Stimmung im ersten Bild ist hier genauso echt wie die des gesamten opulenten zweiten Bildes.

Umso größer ist dann der Umschwung zum dritten Bild, der ohne Pause auf das zweite folgt. Trotz mancher szenischer Brüche und visueller Irritationen (denn es erscheinen plötzlich große Mäuse) gelingt es Anna Bergmann dennoch, den morbiden Zauber der Atmosphäre einzufangen. Sie hat den Ort der Handlung von Paris nach New York verlegt, der „American Dream“ meldet sich zurück. Der berühmte Brunnen im Central Park mit der Engelsstatue wird als Ort der Zuflucht und der Begegnung dargestellt, an dem Mimi neue Menschen kennen lernt und wo sie letztendlich stirbt. Die Bühne von Ben Baur und die Kostüme von Claudia Gonzalez Espindola unterstreichen den Blick auf unser heutiges moderndes Leben. So steht sogar ein Auto im Raum,  das dann allmählich weggefahren wird. Mimi versteckt sich an einem Winterabend sogar im Kofferraum und wird dann von Polizisten rüde herausgezerrt. Diese Bilder sind nicht immer hundertprozentig gelungen, fesseln die Zuschauer aber ebenso wie der mit leuchtenden Sternen blitzende „Kronleuchter“, der heruntergelassen wird.

Unter der temperamentvoll-feurigen Leitung von Christoph Gedschold kann sich die Badische Staatskapelle zusammen mit dem von Ulrich Wagner wieder einmal sehr gut einstudierten Staatsopernchor und dem Cantus Juvenum Karlsruhe bestens entfalten (Choreografie: Krystyna Obermaier). Anette Schneider hat den Kinderchor sorgfältig vorbereitet. Der Parlando-Gesang wird nicht vernachlässigt. Die Fülle kleiner Themen und Motive sprudelt dabei nur so hervor und wird zu einem dichten Gewebe verknüpft. So kann sich auch der melodische Strom voll entfalten. Menschen und Stimmungen treffen aufeinander, was sich in einer präzis herausgearbeiteten beweglichen Rhythmik zeigt. Starre Metren sucht man hier glücklicherweise vergebens. Das erste Bild gelingt klar und kontrastreich in der Gliederung, Zartheit und Leidenschaft gipfeln in der Liebesszene zwischen Rodolfo und Mimi. Jesus Garcia kann die Ausdruckspalette seiner Rolle als unglücklicher Schriftsteller voll ausfüllen, wobei es zu einer fortwährenden Ausdruckssteigerung kommt, die sich auch auf die anderen Sängerinnen und Sänger überträgt – allen voran die mondäne Musetta von Ina Schlingensiepen. Der Musette-Walzer im zweiten Bild gerät zu einem berührenden Höhepunkt. Sehr schön gestaltet wird bei der Aufführung auch das Schneetreiben an der Barriere d’enfer. Seung-Gi Jung kann sich nicht nur im feurigen Duett mit Rodolfo als Maler Marcello profilieren. Konstantin Gorny gelingt das Mantellied Collines ergreifend. Vor allem die Erinnerungsmotive betont Christoph Gedschold mit der Badischen Staatskapelle ausdrucksvoll. Deutlich wird, dass Mimi Rodolfo nicht nur beglückt, sondern ihm das Leben mit berechnender Koketterie auch zur Hölle macht. Die erschütternde Gebrechlichkeit von Mimi und die Zartheit von Rodolfos Empfindungen für sie bringt das Ensemble insgesamt in eindringlicher Weise zum Vorschein. Selbst die musikalische Parodie bei den traditionellen Tänzen im vierten Bild blitzt grell hervor.

Eine widersprüchliche harmonische Spannung beherrscht den Wechsel zwischen dem zweiten und dritten Bild. Und bei den leeren Quinten des dritten Bildes fällt plötzlich kalter Schnee, den die Flöten pfeifen. Das in sich zusammensinkende Melos beherrscht den Gesang und steht hier in krassem Gegensatz zum Dreiklangs-Aufschwung. Der prosaische Charakter einer gesprochenen Sprache wird deutlich mit biegsamen Rhythmen und freien Akzenten bei der Arie „Che gelida manina“. Auch der Widerspruch zwischen Kratzbürstigkeit und lyrischem Verströmen beim Quartett im dritten Bild mit Musetta-Marcello versus Mimi-Rodolfo wird von Christoph Gedschold mit der Badischen Staatskapelle hervorragend herausgearbeitet. Terzfall und Quartsprung des „eiskalten Händchens“ erreichen bei Mimis Tod eine ungeahnte Intensität. Das zuvor zu hörende Liebesduett von Rodolfo und Mimi erklingt in einfühlsamer Schlichtheit. Gefühlsklänge und Erinnerungs-Bruchstücke vermischen sich bei dieser Aufführung zu einem geheimnisvollen Beziehungszauber. In weiteren Rollen beeindrucken Doru Cepreaga, Edward Gauntt als Vermieter Benoit, Mehmet Altiparmak als Alcindoro, Lukasz Ziolkiewicz als Zöllner sowie Dmitrijus Polesciukas als Sergeant der Zollwache. Achim Goebel bedient einfühlsam die Live-Kamera.
Fazit: Trotz mancher Abstriche ist es eine bemerkenswerte Interpretation.    

Alexander Walther           

 

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