Büchners „Leonce und Lena“ mit dem Nationaltheater Mannheim im Forum am Schlosspark Ludwigsburg
EIN MODERNES ROADMOVIE
Georg Büchners „Leonce und Lena“ mit dem Nationaltheater Mannheim am 18. Januar 2017 im Forum am Schlosspark/LUDWIGSBURG
Copyright: Christian Kleiner
Regisseur Sebastian Schug lässt in seiner Inszenierung von Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ die Jugend gegen die starren Regeln der Alten aufbegehren. Der Mensch ist hier ein taumelndes Geschöpf, das sich im Kreis dreht. Die Überwindung des Lebensekels in einer im Automatismus erstarrten Welt durch die Liebe wird auch im Bühnenbild von Christian Kiehl deutlich thematisiert. Man sieht eine schwarze Wand im Hintergrund, die sich hinter Vorhängen plötzlich schließt und die Sicht auf einen rötlichen Hintergrund freigibt, der eine Hausfassade in sich birgt. Im Vordergrund erklingt Musik von Johannes Winde mit bekannten Songs, die von den Schauspielern fantasievoll intoniert werden.
Es ist eine neue Sichtweise auf das Stück, Prinz Leonce wird von David Müller passagenweise völlig nackt gespielt. Jacques Malan kann als König Peter glaubwürdig verkörpern, wie einsam er ist. Er weiß nicht einmal mehr, worüber er eigentlich seine Rede halten wollte. Sein melancholischer Sohn Leonce stellt nur fest: „Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke...“ Sein oder Nichtsein erscheint dabei in Forum eines modernen Roadmovies. Zusammen mit dem von Matthias Thömmes furios gespielten Narren Valerio macht sich Leonce hier in rasanter Weise auf die Reise, die Zuschauer werden vom Regisseur Sebastian Schug stark ins Geschehen mit einbezogen, müssen stellenweise „Vivat!“ rufen und sich erheben. Prinzessin Lena vom Reiche Pipi wird von Carmen Witt glaubwürdig verkörpert, weil diese die Verzweiflung der jungen Frau gegen eine staatlich verordnete Ehe drastisch deutlich werden lässt. Zwischen Weinkrämpfen und euphorischen Aufschwüngen wechseln ihre Auftritte ab. Die satirische Komik dieses Lustspiels kommt dabei keineswgs zu kurz. Leonce findet nach der Trennung von seiner von Julius Forster als „schwule“ Geliebte gemimten Rosetta rasch zu Lena, in der er das weibliche Idealbild erblickt. Als er sich im Überschwang seiner Liebessehnsucht in den Fluss stürzen will, wird er von Valerio gerettet. Das Brautpaar Leonce und Lena erscheint am Hof des völlig vertrottelten Königs Peter vom Reiche Popo, um zwischen flatternden Geldscheinen eine rauschende Hochzeit zu feiern. König Peter dankt ab und der Narr Valerio ernennt sich zum Staatsminister. Sebastian Schug lässt in seiner Inszenierung ganz bewusst vieles aus dem Ruder laufen, die Handlung entgleitet den Protagonisten immer mehr, die „Leutnantsromantik“ wird in drastischer Weise mit tuntenhaftem Gehabe verspottet. Dazwischen nimmt man einen Song von Walt Whitman wahr: „Ich singe den Leib, den elektrischen“. Die Leistungsgesellschaft wird karikiert und auf den Kopf gestellt und der Müßiggang gefeiert. Dafür sorgen nicht nur Jacques Malan als Gouvernante, sondern auch Boris Koneczny als Hofmeister, erster Kammerdiener, Präsident des Staatsrats und Landrat, Schulmeister, Bedienter und fulminantes Bandmitglied. Julius Forster mimt zudem den zweiten Kammerdiener, ein Mitglied des Staatsrats, den Ceremonienmeister, ein Ausnahmetalent, einen Bauern, eine junge Dame, die Wache und ein weiteres Bandmitglied mit furioser Nonchalance.
Copyright: Christian Kleiner
Luches Huddleston vermag den Coaching Tanz passend ins atemlose Handlungsgeschehen zu intergrieren. Dass vieles überdreht wirkt, ist eine Schwäche dieser Aufführung, die jedoch durch deutlichen Sarkasmus kompensiert wird. Auch Valerio wirkt in der Darstellung von Matthias Thömmes stellenweise viel zu stark überdreht, er findet nicht mehr zu sich selbst zurück. Die „Kommunion des guten Geschmacks“ will hier nicht gelingen, denn die Welt steht völlig auf dem Kopf. Zu Mozart-Musik reicht der Hofmeister dem Publikum schließlich Schnaps. Da driftet die Inszenierung plötzlich ins Klamaukhafte ab. Pistolenschüsse krachen in die Luft, Erschütterungsmomente verbinden sich mit Massenwahn, man verhöhnt Gott als „Scherzkeks“. Ein kaputtes Auto fährt über die Bühne. Auf der anderen Seite besitzt Valerios närrische Lebensphilosophie eine politische Bedeutung. Leonce und Lena möchten sich ganz bewusst den Anforderungen des Hofes entziehen. Am Schluss steht der Zusammenhang zwischen Utopie und Liebe im Zentrum des Geschehens. Die Automaten-Szene gerät bei dieser Aufführung eher in den Hintergrund, denn die Menschen agieren im Grunde genommen die ganze Zeit als Automaten, die aber letztendlich aus ihren festgefahrenen Rollen stürmisch ausbrechen. Das kommt gut zum Vorschein. Das Reich Popo stellt Sebastian Schug als trügerisches Schlaraffenland bloß, das keinen Wahrheitsanspruch besitzt. Paradiesische Zustände wünscht sich auch Leonce in der Darstellung von David Müller für sein Zauberland. König Peter führt die Königskinder trotz aller Verwirrung zurück in die höfische Ordnung, die aber deutlich angeknackst ist. König, Prinz und Prinzessin sind Schablonen, die wie Marionetten zu platten Konventionen tanzen. Aber Schug lässt auch den Geist der Revolution aufleben. Matthias Thömmes kann als Valerio glaubhaft darstellen, dass er wirklich die körperhafteste Figur von allen ist. Am Ende tanzen alle im Figuren-Karussell. Die Unentrinnbarkeit und Unabwendbarkeit der Langeweile zeigt sich in dieser Inszenierung von ihrer grotesken Seite. Die Illusion ist hier wirklicher als das reale Leben. Lena bringt das auf den Punkt: „Auf dem Kirchhof will ich liegen, wie ein Kindlein in den Wiegen.„
Alles in allem ist es eine Inszenierung, die viele Fragen offen lässt und manche Zuschauer auch überfordert. So verließen einige Theatergäste vorzeitig den Saal. Jubel gab es jedoch am Schluss fürs gesamte Team.
Alexander Walther