LP: VÍKINGUR ÓLAFSSON „Mozart & Contemporaries“; Deutsche Grammophon Clear Vinyl in 180 Gramm PressungMozart und Zeitgenossen: Musiker und Menschen
Wie schon in seinem Programm zu „Reflections“, erweist sich der isländisch eigenbrötlerische Pianist Víkingur Ólafsson auch in seinem vierten Album mit einer klugen Zusammenstellung als spannender Beleuchter einer musikalischen Epoche und als pädagogisches Talent. Im Konzert erklärt und spricht er schon mal launisch über das, was er da gerade tut, einem Nikolaus Harnoncourt nicht unähnlich. Mit dem Dirigenten hat er auch gemeinsam, dass er alles über die Musik, die ihn gerade interessiert, weiß und vorab Unmengen an Biographischem wie Historischem in sich hineinsaugt.
Diesmal ist es die Musik Wolfgang Amadeus Mozarts, die er mit ausgewählten Beispielen aus dem Schaffen seiner vorlaufenden Zeitgenossen Galuppi, C.P.E. Bach, Cimarosa und Haydn als gewiefter Fährtensucher mischt. Und weil anfängliche Abneigung ja nicht selten ein probates Mittel für wachsendes Interesse und spätere Bewunderung sein kann, so hat Ólafsson aus sein kindliche Wut auf Mozart, weil er als Achtjähriger die Sonata facile in C-Dur nicht gebacken bekam, beizeiten ablegen können. Beinahe 20 Jahre später will Ólafsson mit seinem programmatisch wild durcheinander gewürfelten Album mit Klischees betreffend Mozart aufräumen und gleichzeitig das kompositorische Schaffen für Klavier im späten 18. Jahrhundert kontextuell beleuchten. Dazu wählt er Stücke vorwiegend aus den 1780-er Jahren. Die Klaviersonaten Nr. 14 in c-Moll, KV 457 und Nr. 16 in C-Dur, KV 545, Mozarts Rondos in F-Dur, KV 494, und in D-Dur, KV 585, die nur fragmentarisch erhaltene Fantasia in d-Moll, KV 397, das vom Pianisten aus dem Streichquintett Nr. 3 in g-Moll, KV 516, selbst für Klavier arrangierte „Adagio“, die kleine „Gigue“ in G, KV 574, Mozarts „Adagio“ in b-Moll, KV 540 sowie das „Ave verum corpus“, KV 618, von Franz Liszt für Klavier solo transkribiert stehen einer Reihe von Komposition der erwähnten Zeitgenossen gegenüber.
Dabei sollen Querbezüge einiger Lieblingsstücke des Pianisten erhellend auf unsere Rezeption wirken, dem klischeehaft apollinischen Spaßvogel Mozart sein – nicht zuletzt den Lebensumständen geschuldetes bisweilen düsteres und zerrissenes Inneres gegenübergestellt werden. Diese Übung ist dem perfektionistischen Universalisten und schick intellektuellen Ólafsson in seiner streng abgezirkelten Versuchsanordnung gelungen. Aber Stimmungen in Musik sind nicht immer autobiographisch motiviert, weswegen Ólafssons Labor für seine Zwecke zwar die richtigen Ingredienzien amalgamiert, aber methodisch keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann.
Was auffällt ist, dass Ólafsson sein Ziel auf selten gespieltes Klavierrepertoire repliziert und durch seine Auswahl durchaus die „Modernität“ und klangliche Inventions- und innovationskraft der Komponisten in der Logik Barock-Klassik-Romantik offenlegt. Mit der neunten Klaviersonate des Venezianers Baldassare Galuppi, einem erfolgreichen Opernkomponisten von Buffas wie von Serias, etwa will Ólafsson frappante Parallelen in der Kombination von Verfeinerung und einer dunklen nervösen Energie wie beim Beginn von Mozarts Symphonie Nr. 40 heraushören. In Mozarts kraftstrotzender Klaviersonate Nr. 14 ahnt der Komponist wiederum Beethoven voraus. Brutale Ausbrüche stehen still verhangenen Tiefenstaffelungen gegenüber. C.P.E. Bachs Rondo in d-Moll macht der überlieferten Exzentrizität dieses ältesten Bach-Sohnes alle Ehre. Ein hakenschlagender Motivenlauf, Bruckner vorwegnehmende Interruptionen, eine improvisatorisch anmutende Durchführung.
Aber Ólafsson ist nicht nur ein wissender und neugieriger Musiker, der Kontrollfreak überlässt rein nichts, aber auch gar nichts dem Zufall. So wechselt er des Klanges wegen vom Steinway zum Yamaha Flügel und reizt gemeinsam mit dem Tontechniker alle Möglichkeiten des Tonstudios aus. Selbst bei der Abmischung legt er noch selber Hand an. Da wird das Mikro bis in das Herz des Flügels versenkt – ähnliche Experimente hat auch Friedrich Gulda 1972 im Villiger Studio von MPS bei der Aufnahme von Bachs „Wohltemperierten Klavier“ durchgeführt – der Raum als akustischer Intermediär hat hier ausgedient. Natürlich hat der Hörer hier die einmalige Gelegenheit, der Musik direkt aus dem „Maschinenraum“ in mikroskopisch intimer Vergrößerung zu lauschen.
Das alles passt auch zu Ólafssons interpretation. Er sorgt mit seinem präzisen, zarten Anschlag für einen gläsern transparenten Sound. Sparsame Rubati und betonen die Feingliedrigkeit der Stücke. Ólafsson versucht, den innersten Geheimnissen der Musik und ihrer Schöpfer auf die Spur zu kommen. Ólafsson wird hierbei zum Zauberer der Klangfarben, aber auch zum strengen Hohepriester eines ganz persönlichen und dennoch puren Stils. Ich schätze diesen Ansatz sehr, weil er auf alles Nebelige und weichspülend Verwischende verzichtet. Die Aufnahmetechnik unterstützt das Bestreben, den Hörer so nah an die Quelle der Klangproduktion zu holen wie nur möglich. Ólafsson steht für ein klare Ansage, inwieweit es nicht doch ein wenig mehr Freiheit des Augenblicks bräuchte, um noch tiefer zu gehen, möge jede/r selber für sich bewerten.
Mit Víkingur Ólafsson ist einer jener seltenen Pianisten zu bewundern, die sich – ähnlich Grigory Sokolov – ihr Können und das Streben nach Gültigkeit in langen Probenphasen und Aufnahmesitzungen hart erarbeiten. Ólafsson begreift das Studio als Empfehlung für eine eigene Kunstform und hat sich ihre Spezifika ganz zu Eigen gemacht. Mozarts Subtilität neu auszuloten („Die Schatten sind dunkler, die Nuancierungen und Zweideutigkeiten tiefgründiger“), ist ihm mit dem Album zweifelsfrei gelungen.
Dr. Ingobert Waltenberger