Foto: Barbara Palffy/Reinhard Winkler/ Landestheater
Linz:„LE PROPHÈTE“– Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 22. 09.2019
Oper in fünf Akten auf ein Libretto von Eugène Scribe und Émile Deschamps, Musik von Giacomo Meyerbeer
Abgesehen von einer tödlichen Amokfahrt eines psychisch Erkrankten 2018 ist Münster in heutiger Zeit ein friedlicher Ort: Universitäts- und Fahrradstadt, Sitz von Verlagen, mit recht umtriebiger (Musik)Theaterszene –einfach entspannt. Trotzdem ist die Stadt zumindest im deutschen Sprachraum für eine gewaltige Mordrate bekannt – „schuld“ daran sind die stets um gewaltsame Todesfälle zentrierten, dabei höchst unterhaltsamen TV-Filme um Professor Börne und Kommissar Thiel am „Tatort“ und die ebenso schräghumorige Serie um einen gescheiterten Rechtsanwalt und nunmehrigen Antiquar und Privatdetektiv, der zusammen mit gleichermaßen exzentrischen Freunden die Polizei, nicht ganz friktionsfrei, unterstützt: „Wilsberg“. In beiden Serien gab es Folgen mit Bezug zu einer sehr blutigen Episode: die Herrschaft der Wiedertäufer, die 1535 gewaltsam zu Ende ging. Vom zentralen Prinzipalmarkt aus sieht man noch heute die Eisenkäfige am zwischenzeitlich gotisierten Turm von St. Lamberti, in denen die Leichen der nach der katholischen Rückeroberung auf monströs grausame Weise hingerichteten Anführer dieser Protestanten, Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling, zur öffentlichen Verwesung ausgestellt worden waren.
Meyerbeer, Scribe und Deschamps hatten sich schon davor („Les Huguenots“) mit Folgen der Reformation beschäftigt. Die neue Grand Opéra, deren Schaffung allerdings aufgrund verschiedenster persönlicher und künstlerischer Konflikte u. a. über Besetzungsfragen 12 Jahre in Anspruch nahm, nutzte die 300 Jahre zurückliegenden Ereignisse in „Westphalen“ allerdings nur als historisch unverbindlichen Vorwand, um das zeitgenössische revolutionäre Geschehen in Frankreich zu kommentieren, und vor allem auch das Publikum mit sex and crime sowie spektakulärer Musik anzulocken und zu unterhalten. Die Uraufführung am 16. April 1849 war ein großer Erfolg, der sich rasch an allen bedeutenden Opernhäusern der Welt wiederholte. Dann aber sind Aufführungen selten geworden, was nicht nur am großen Aufwand dieses Werkes liegt, speziell der auf eine ganz besondere Sängerin (Pauline Viardot-Garcia) zugeschnittenen Rolle der Fidès, sondern auch an Unsicherheiten über die „Originalfassung“, die von Meyerbeers Arbeitsweise der Anpassungen und Striche im Zuge der Proben gefördert wurden. Schon im März 1851 wurde die Oper auch am Linzer Landestheater gegeben, seither aber nicht mehr.
Der gerade 35 Jahre gewordene Verein der Freunde des Musiktheaters widmete sein 61. Sonntagsfoyer am 15. 9. dieser Produktion – immer eine wertvolle Gelegenheit, an Vorab- und Hintergrundinformationen zu kommen. Beispielsweise definierte der Wahlkölner Piero Vinciguerra sein Bühnenkonzept so: „Ich wollte einen Angst-Raum schaffen und habe dafür (im Modell) eine gründerzeitliche Fabrikshalle gebaut, Munitionsfabrik, in die ich Munitionskisten stellte, die ich dann entfernte – die Angst aber verblieb im Raum“. Naja. Immerhin erzählt diese Oper, zwar mit großer Freiheit, ein konkretes historisches Ereignis, insoferne gar nicht weit weg von der „Tosca“. Die Handlungsorte wären eigentlich Gelände in Holland, um Münster,der dortige (romanische) Dom sowie das „Stadtschloß“. Das Resultat hier war jedenfalls eine mit wohl gewaltigem Aufwand gebaute, wirklich riesige runde Werkshalle mit großen, kleinteilig verglasten Fenstern, wie sie um 1890 entstanden sein mag. Angst? Wir denken da eher an frühmoderne Architektur, im „schlimmsten“ Fall an einen rußigen Lokschuppen; ein paar eindrucksvolle Bilder waren wenigstens drin. Nebeneffekt dieser akustisch ja sehr wirksamen Bauform ist eine teils ungute Neigung zu Echos und Schallverzögerungen. Katharina Gault hatte beim Sonntagsfoyer erklärt, man könne nicht für viele Dutzend Personen auf der Bühne Renaissance-Kostüme herstellen. Hm. Von Abstraktionsmöglichkeiten abgesehen, hätte das ungefähr drei oder vier Personen betroffen; der Rest ist armes Bauernvolk, das man auch in mehr oder weniger primitive Jutesäcke stecken könnte, ohne einen groben Schnitzer zu begehen – von diversen Ausleihmöglichkeiten einmal abgesehen. Was dann nämlich wirklich an den Choristinnen und Choristen zu sehen war, war teils durchaus aufwendige moderne oder mäßig ältere, im Stil bis etwa 150 Jahre zurück reichende, Kleidung – diese Ausstattung kann auch nicht billig gewesen sein, egal, ob geliehen oder selbst erstellt. Und der Täuferkönig ist immerhin eine Erscheinung von „Kini-Ludwig“-nahem Format.
Foto: Barbara Palffy/Reinhard Winkler/ Landestheater
Die Inszenierung von Alexander von Pfeil hat so zwar sehr viel Platz und weiß diesen in der Personenführung auch zu nutzen, aber die Konflikte und Inkongruenzen mit dem Text und der logisch erforderlichen Handlung sind mannigfach; am schrillsten die Umwandlung des Comte d’Oberthal im dritten Akt vom „verirrten Wanderer“ zum schwuchtelig gezeichneten Milchmann der Firma „Au bon lait“,Jan von Leiden wird als radelnder Holländer eingeführt: sollte wohl lustig sein, in der rundum sonst düsteren Szenerie und Handlung.
Zu Beginn vermutet man ein Flüchtlingslager, wobei dann Büttel des Grafen Oberthal mit Taschenlampen herumsuchen und die Masse mit Pistolen und Sturmgewehren scheuchen. Daß das Schlittschuhläufer-Ballett im dritten Akt szenisch ersatzlos gestrichen wird, überrascht dann nicht weiter. Die Musik gab es zwar, aber mit herabgelassenem eisernen Vorhang, auf den, wie schon zur Ouverture, passende Bibelstellen oder zeitgenössische Schriften projiziert wurden; immerhin lesen wir so die memorable Aussage von Martin Luther zu den Münsteraner Täufern, daß dort „die Teufel aufeinandersäßen wie die Kröten“. Auch im vierten Akt, beim Krönungsmarsch, gibt es diese letztlich billige/unschlüssige Lösung. Vor der alles vernichtenden Schlußszene gewinnt man Zeit für den Auftritt der vielen Choristen durch eine Pause in der Musik, in der Hubschraubergeräusche, etwa wie in Vietnam-Filmen, eingespielt werden. Das erweckt bei uns aber – schon wieder! – keine Angstgefühle, sondern Ärger über diesen antimusikalischen Stimmungs- und Spannungskiller: wie wenn man Meyerbeer, der da schon dem blutig-feurigen Ende entgegenkomponierte, in den Arm fallen wolle…
Aber kommen wir zu den positiven Aspekten des Abends: die gewaltigen Massen aus Stamm- und Extrachor sowie der Jugendabteilung (geleitet von Elena Pierini, Martin Zeller und Ursula Wincor) sind nicht nur bewegungsmäßig sehr gut geleitet, sondern auch großartig bei Stimme. Das gilt auch für die zahlreichen kleineren Rollen, die mit Chorsolistinnen und -solisten besetzt sind (Danuta Moskalik, Yoon Mi Kim-Ernst, Markus Schulz, Csaba Grünfelder, Marius Mocan, Tomaz Kovacic, Jonathan Whiteley und Markus Raab).
Katherine Lerner, Jeffrey Hartman. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Jean de Leyde wurde vom Gast Jeffrey Hartman verkörpert; der US-Tenor hat u. a. an der Lyric Opera Chicago den Cavaradossi, in Chemnitz den Kalaf gesungen. Also, leicht tut er sich mit dem Propheten nicht: in den ersten drei Akten hört man öfter Kickser, und generell liegt lange ein Hauch von Knödel über seiner Stimme. Erst im vierten Akt kann er sich freisingen und legt ein ordentliches Finale hin, freilich ohne zu glänzen.
Adam Kim, Dominik Nekel, Matthäus Schmidlechner. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater
Wesentlich mehr überzeugen konnte Ensemblemitglied Dominik Nekel als Priester Zacharie: ein kompletter Schauspieler mit tragendem, profunden Baß – und zahlreiche teils höllisch komplexe Belcantostellen gelingen ihm genauso; er bekam auch, unter den Herren, den meisten Applaus. Meist im Trio mit ihm treten Matthäus Schmidlechner (Jonas) und Adam Kim (Mathisen) auf, in ähnlicher Qualität; besonders beim Spieltenor Schmidlechner hat man oft den Eindruck, seine Stimme hätte mehr Substanz als die des Titelrollensängers. Auch Graf von Oberthal, Bösewicht, der als solcher später vom blutigen Wüten der Wiedertäufer locker überboten wird, ist bei Martin Achrainer, trotz einiger seltsamer Anforderungen seitens der Regie, in sicherer Hand und Kehle.
Wo die Produktion aber durchaus auch sensationelle Qualität erreicht, sind die beiden weiblichen Hauptrollen, beides Ensemblemitglieder: die Berthe von KS (Berlin) Brigitte Geller ist schon einmal ein wirkliches Erlebnis mit ihrer tragenden Stimme, die wunderbare freie Koloraturen wie intensives Flehen ebenso beherrscht wie das Abgleiten in den rächenden Wahnsinn im 5. Akt. Und die riesige Rolle der Fidès, wie eingangs erwähnt an einer Ausnahmesängerin modelliert, wird von Katherine Lerner mit absoluter Perfektion erfüllt – von tiefsten, immer noch klangvollen Altlagen bis zur komplexen Koloratur in den obersten Sopranregistern kommt alles perfekt, egal in welcher Lausstärke, egal in welcherintensiv schauspielerisch mitgelebten Situation, egal ob weit hinten im Bühnenraum oder vorne an der Rampe.
Und dann natürlich noch das im diesmal halbhoch gefahrenen Orchestergraben sitzende Bruckner Orchester: ca. 70 Personen im Graben, 4 Kontrabässe, 2 Harfen, erweiterte Bläser u. a. mit einem Cimbasso als Ersatz für die vorgeschriebene Ophikleide; so gut wie vollkommene Präzision, transparent auch in den wuchtigsten Tutti-Momenten, machen durchaus Werbung für Meyerbeer. Markus Poschner ist der perfekte Leiter auch für diese Literatur, der natürlich auch die Koordination mit der riesigen Bühne im kleinen Finger zu haben scheint und jedenfalls, soweit die Regie das zuläßt, auch die musikalische Spannung und Balance über vier Stunden Netto-Spieldauer hält.…
Begeisterter Applaus für Brigitte Geller und noch mehr für Katherine Lerner, auch für Dirigent und Orchester; der für Jeffrey Hartman war verhalten, für das Produktionsteam noch reduzierter, aber es gab auch keine vernehmlichen Buhrufe. Die beiden „leading ladies“ sind, neben der orchestralen Seite, absolut den Besuch der Produktion wert, und ansonsten kann man bekanntlich ja die Augen zu machen.
Petra und Helmut Huber
Schlussapplaus: Kim, Nekel, Lerner, Blitt, Vinciguerra, Poschner, Hartman, Gault, von Pfeil, Geller, Schmidlechner, Achrainer). Foto: Petra und Helmut Huber
Foto: Petra und Helmut Huber
Foto: Petra und Helmut Huber