LONDON/ DRESDEN/ Das Royal Opera House im Kino: „ANASTASIA” – BALLETT VON MACMILLAN – 2.11. 2016 Ufa Kristallpalast Dresden – St. Petersburger Straße
Die neue Saison der Live-Übertragungen aus dem Royal Opera House (ROH) London hat begonnen – mit einem Ballett über eines der großen historischen Rätsel des 20. Jh., der „echten“ oder unechten Anastasia, jüngste der vier Töchter des russischen Zaren, der mit seiner Familie während der Oktoberrevolution 1918 ermordet wurde. Die Leichen wurden in einem unzugänglichen Waldstück verscharrt.
Das Auftauchen der Bauerntochter und Fabrikarbeiterin Anna Anderson alias Francisca Anna Czenstkowska alias Franziska Schanzkowsky alias Anastasia Manahan, die vermutlich durch eine inszenierte Verwechslung Anfang der 1920er Jahre in die Rolle der Zarentochter schlüpfte, gab Stoff für mehrere Filme. Kenneth Macmillan machte es zum Gegenstand seines großen abendfüllenden Ballettes „Anastasia“, eine der ersten Kreationen, nachdem er Leiter des Royal Ballet geworden war.
Zu der Zeit war noch nicht geklärt, ob die Zarentochter evtl. nicht doch überlebt hätte. Manche hofften es. Sie wollten wenigstens etwas von diesen schrecklichen Ereignissen gerettet wissen. Macmillan schuf letztendlich eine Choreografie für ein Psychodrama um eine Frau, die entweder eine Hochstaplerin und Betrügerin war oder im Zustand der Schizophrenie wirklich glaubte, die Zarentochter zu sein, ein Rätsel, das bisher nicht geklärt werden konnte. Geklärt werden konnte hingegen erst jüngst durch DNA-Analysen und das Auffinden der Überreste der Ermordeten, dass die echte Anastasia wirklich tot war.
Sei’s drum, die Choreografie dieses Ballettes kann so oder so gedeutet werden, auf jeden Fall ist es ein sehr eindrucksvolles Psychodrama, das im 1. Akt ein fröhliches Picknick der Zarenfamilie auf der kaiserlichen Jacht mit der sich noch etwas kindlich zurückhaltenden Anastasia an der Schwelle des Erwachsenwerdens zeigt. Das Fest findet ein jähes Ende, als der Zar vom Ausbruch des Krieges erfährt. Im 2. Akt wird trotz der zunehmenden sozialen Unruhen ein Ball veranstaltet, um Anastasia in die Gesellschaft einzuführen. Sinnigerweise hängen da bereits die Kronleuchter schon schräg im Raum als Vorboten oder böses Omen für das, was kommen wird.
Der 3. Akt zeigt Anna/“Anastasia“ einige Jahre später in einer psychiatrischen Klinik, wo ihr nichts geblieben ist, als ein tristes Klinikbett und ihre „Erinnerungen“, das Massaker an der Zarenfamilie (das sie nicht erlebt hat), die angebliche „Rettung“ durch 2 Brüder, ihr Selbstmordversuch, das „Verschwinden ihres Kindes“, den „Tod ihres Mannes“ und die „Auseinandersetzungen mit den kaiserlichen Verwandten“ und deren Ablehnung. Diese „Erinnerungen“ können, wie man heute weiß, nur in der Fantasie dieser Frau entstanden sein, mit Ausnahme ihres Selbstmordversuches, der wirklich stattgefunden hat (man zog sie, die falsche „Anastasia“, in Berlin aus dem Landwehrkanal).
Immer wieder bricht hier die brutale Gewalt der Revolution herein, die am Ende siegt, die rote Fahne wird geschwenkt, um die Zeitgeschichte deutlich zu machen und den Hintergrund der Ereignisse zu zeigen. Das ist in den Erinnerungen der falschen Anastasia wohl kaum vorgekommen und würde eher zu einer möglicherweise überlebenden Anastasia passen, so wie die Szene, wo sie vom Leichenkarren gehoben wird, aber das sollte man nicht so ernst nehmen. Immerhin ist es sehr theaterwirksam und damals konnte ja – wie gesagt – noch niemand wissen, wie es wirklich war.
Für Natalia Osipova, die als erste Russin im Royal Opera House die Anastasia tanzt, war es eine Herausforderung, die zu einer ihrer Paraderollen wurde. Sie konnte nicht nur ihre frappierende Technik mit ihrem überaus geschmeidigen, biegsamen Körper, der wie schwerelos mit doppelter Rolle von Tänzern durch die Luft „gewirbelt“ wurde, ihre ausdrucksstarke Tanzkunst und vor allem auch ihr schauspielerisches Talent zeigen – eine Darstellung der Rolle, die man nicht wieder vergisst.
Als würdiger Zar, dem historischen Nikolaus II. sehr ähnlich nachgestaltet, fungierte Christopher Saunders. Als seine Gattin Alexandra Fedorovna tanzte Christina Arestis ihre Rolle mit entsprechend angemessenem Charme, zwischen gespielter Jugendlichkeit und Mutterrolle, dezent, elegant und distinguiert, wie es damals üblich war, so als wäre es die Rolle der Zarin in der Gesellschaft. Ihre Töchter wirkten ebenfalls glaubhaft mit jugendlicher Lebensfreude, immer wieder gebremst durch die anerzogene „Raison“.
Die „Zarenfamilie“ wirkte auch äußerlich sehr „echt“, wie überhaupt alles bei dieser Inszenierung (Gary Harris), insbesondere durch Kostüme im Stil der Zeit mit allen Accessoires und ein angemessenes Bühnenbild (Bühnenproduktion: Deborah Macmillan, Design: Bob Crowley). Man fühlte sich – mit Verlaub – in diese Zeit und in diese Kreise versetzt, wie man sie aus historischen Dokumenten kennt, verstärkt durch kurze Ausschnitte aus einem 100 Jahre alten Filmdokument mit der echten Zarenfamilie, (verständlicherweise) in sehr schwacher Qualität, aber authentisch.
Der kleine Zarewitsch bewegte sich schon mit erstaunlicher tänzerischer „Perfektion“, spielte bei allem verständig mit und wirkte ebenfalls „echt“ in seiner Rolle.
Die argentinische Principal Dancer Marianela Núñez, bot als Ex-Geliebte des Zaren mit Federico Bonelli als ihren Ehemann einen klassischen Pas de deux mit allen Raffinessen, Figuren und Schwierigkeiten des klassischen Tanzes.
Die Gestalt des Rasputin, verkörpert durch Thiago Soares, durchzog theaterwirksam wie eine schwarze Eminenz das Geschehen (obwohl der historische Rasputin zu dieser Zeit schon tot war – ermordet).
Wie so oft beim Royal Ballet (Ballettmeister: Christopher Saunders, Gary Avis, Jonathan Howells, Samantha Raine) dominieren Handlungsballett, interessante Charakterisierung der handelnden Personen und Darstellung der Situationen und historische Zeitereignisse, umgesetzt in Bewegung und Mimik, gegenüber virtuos getanzten Schwierigkeiten, aber es gibt auch immer wieder einige neue und ungewöhnliche Figuren und Darstellungsarten, wie die doppelte horizontale Rolle der Anastasia durch die Luft, „gestartet“ und getragen von einigen Tänzern, oder die wechselnden Beziehungen im psychologisch durchdrungene Hin und Her, Für und Wider der Personen, Zarin, Zar, seiner Ex-Gliebten, deren Ehemann und Rasputin, die mit wenigen, aber gekonnten Darstellungsmitteln die Gedanken, Gefühle und Verwirrungen deutlich machen. Es war ein echtes Psychodrama, bei dem, ohne dass ständig Wände verschoben werden oder sonstige „Beziehungskisten“ nötig gewesen wären, allein mit den Mitteln des Tanzes und der Bewegung sehr klar und eindeutig die seelischen und geistigen Vorgänge innerhalb der Handlung nachvollziehbar gestaltet werden.
Das Orchestra oft the Royal Opera House spielte unter der Leitung von Simon Hewett zur Untermalung des heiteren familiären Lebens der Zarenfamilie dezent wenig bekannte Musik von P. I. Tschaikowsky, für das Hereinbrechen der Revolution mit entsprechender Vehemenz aber Musik von Bohuslav Martinú.
Ingrid Gerk