LONDON/ DRESDEN/ Das Royal Opera House im Kino: „LES CONTES D‘HOFFMANN” – 15.11. 2016 Ufa Kristallpalast Dresden – St. Petersburger Straße
„Les Contes d’Hoffmann“ sollte Jacques Offenbachs Grand Opera werden, aber er starb vier Monate vor der Uraufführung und deren Vollendung. Die Uraufführung fand trotzdem in Paris statt (10.2.1881, Opéra-Comique) und war sofort ein voller Erfolg. Offenbach hatte den Nerv seiner Zeit getroffen. Bis heute ist seine Oper eine der meist gespielten, nicht zuletzt, weil das Stück durch seinen Werkstattcharakter und offenen Schluss sehr modern erscheint und zu immer neuen Deutungen bei der szenischen Umsetzung anregt.
Mehrere Komponisten versuchten, die Oper in Offenbachs Sinn zu ergänzen und die einzelnen Teile zu verbinden, so dass zahlreiche Versionen – meist als fünfaktige Oper – existieren. Der britische Regisseur John Schlesinger, der die Oper 1980 am Royal Opera House London inszenierte, entschied sich für die Originalfassung mit den ursprünglichen drei Akten, Prolog und Epilog und brachte sie in französischer Sprache (mit Untertiteln) und ohne „Zutaten“ dennoch als „große Oper“ auf die Bühne. 36 Jahre lang hielt sich seine Inszenierung als Publikums-Liebling im Spielplan und wurde jetzt als letzte Vorstellung der Wiederaufnahme auch live in alle Welt ausgestrahlt.
Schlesinger kam vom Film (Oscar-prämiert) und ließ eine romantische Welt aus Gedanken, und Gefühlen in Hoffmanns, vom Alkohol verklärten Hirn, verbunden mit Geheimnissen und Gefahren, im Stil des 19. Jahrhunderts lebendig werden. Er entlehnte vieles dem wahren Leben aus Beobachtungen typischer menschlicher Verhaltensweisen und achtete bei den Sänger-Darstellern auf jede Kleinigkeit. Bei ihm musste alles „sitzen“, auch jede Mimik, wie ehemalige Protagonisten in der Pause berichteten. Das Ergebnis war durch die Leinwandinszenierung (Jonathan Haswell) besonders genau zu verfolgen, wahrscheinlich noch besser als live im Opernhaus. Die Sänger waren gleichzeitig auch Darsteller von speziellen Charakteren, wobei der Gesang in seiner vollen Entfaltung in keiner Weise gestört wurde.
Es werden drei sehr unterschiedliche Geschichten des deutschen romantischen Schriftstellers und Juristen, aber auch Kapellmeisters, Komponisten, Musikkritikers, Zeichners und Karikaturisten E. T. A. Hoffmann erzählt, die in der Oper als drei Charakterseiten der von Hoffmann verehrten Opernsängerin Stella in übertriebenem Maße gedeutet werden, umrahmt von Hoffmanns Wirtshausbesuchen inmitten von trinkfesten Studenten (Royal Opera Chorus – Leiter: William Spaulding) in Prolog und Epilog, die sich wie eine Klammer um die drei Episoden schließen, als wäre das alles in Hoffmanns Fantasie entstanden, realistisch und doch irreal und fantastisch, und das Ganze als echtes Psychodrama, das auch ohne Einführungsvortrag und symbolisierende Bühnengestaltungen unmittelbar verstanden wird.
Man leistete sich drei sehr unterschiedliche, sehr stimmige Bühnenbilder (William Dudley) und stilgerechte, sehr „echt“ wirkende, äußerst aufwändige, farbenprächtige Kostüme (Maria Björnson), eine Augenweide, die von sich aus schon die psychischen und handlungsseitigen Zusammenhänge verdeutlicht. Oper lebt eben auch von optischen Eindrücken, die immer etwas Besonderes sein und nicht nur Straßenmode aus dem Kaufhaus zeigen sollten.
Einen außergewöhnlichen optischen Eindruck bot auch die russische Koloratursopranistin Sofia Fomina als eine selbst aus allernächster Nähe „echt“ wirkende Biedermeier-Puppe namens Olympia mit exzellenter Stimm- und Körperbeherrschung. Man wusste nicht, was man bei ihr mehr bewundern sollte, ihren glockenreinen Belcanto-Gesang mit atemberaubender Stimmakrobatik und allen Finessen oder ihre „lebensechte“ Darstellung der Puppe mit äußerst disziplinierter Körperbeherrschung, „eckigen“ Bewegungen wie ein tatsächliches Wunderwerk der Technik, wenn sie sich trippelnd über die Bühne bewegte, oder „mechanisch“ ihren Fächer entfaltete, die unbewegliche Haltung der Finger ohne die leiseste Unruhe oder ihren frappierenden Gesang, (fast) ohne eine Miene zu verziehen.
Ganz anders hingegen die Kurtisane Giulietta, verkörpert von Christine Rice, in deren Gemach es orgiastisch zugeht, mit entsprechender Beleuchtung und Farbwirkung, aber immer ästhetisch. Christine Rice hielt als Femme fatale tatsächlich wirkungsvoll die Fäden in der Hand und betörte mit ihrem perfekten Gesang in allen Phasen die Männer auf der Bühne und erst recht die Zuschauer in Parkett und Rängen. Hier wurde wirklich Erotik „verströmt“, ohne große Entblößungen und peinliche Situationen. Es war eben gekonnt inszeniert.
Was sollte nach diesem inszenatorischen Höhepunkt und der frappierenden Gesangs- und Darstellungsleistung von Christine Rice noch kommen? Der beseelte Gesang der Sonya Yoncheva als sanfte, aufrichtige, aber lebensbedrohte, der Musik verfallene, sensible und gefühlvolle Antonia, die mit ihrem lyrischen Sopran und ihrer Darstellung sehr berührte und einen musikalischen und theatralischen Höhepunkt ganz anderer, ganz besonderer Art erleben ließ.
Die drei Protagonistinnen waren so unterschiedlich und jede auf ihre Art ein Superlativ, der der jeweiligen Gestalt und dem Sujet dieser Oper nicht besser entsprechen konnte.
Als Nicklausse wirke Kate Lindsay zunächst etwas herb und diskret zurückhaltend, ohne viel Leidenschaft und individuellen Charakter. Sie verzog kaum eine Miene. Das änderte sich im Duett mit Giulietta. Hier verströmte ihre Stimme Wärme und Sensibilität, die zusammen mit dem betörenden Gesang von Christine Rice die Barcarole noch lange nachklingen ließ. Auch das sind feine Nuancen, die einer Oper nachhaltige Wirkung verleihen. Schließlich entpuppte sich dieser Nicklausse am Ende als Hoffmanns (weibliche) Muse und verschwand zum Schluss im „Wandgemälde“ des Gasthauses neben zwei anderen Musen – auch eine perfekte Lösung. In dieser Inszenierung ging einfach alles auf – auch psychologisch.
An der Spitze dieser herausragenden Besetzung brachte sich Vittorio Grigolo in der Rolle des eigentlichen „Helden“ und Poeten Hoffmann (ursprünglich mit Placido Domingo besetzt) voll und ganz ein. Nicht nur mit seinem bezwingenden Gesang beeindruckte er stark. Mit hingebungsvoller Leidenschaft und viel Temperament sang und spielte er einen lebensechten, durch verzweifelte Liebe und Teufel Alkohol langsam verkommenden Dichter und jugendlichen Heißsporn, in seiner Art unbedingt glaubhaft. Er ging ganz in seiner Rolle auf und verlieh ihr pulsierendes Leben.
Thomas Hampson ist ganz und gar kein Bösewicht oder gar hinterhältiger Mensch, sondern ein lyrischer Bariton mit Herz und Verstand, aber, unterstützt durch „furchteinflößende“ Kostüme wirkte er dennoch glaubhaft als Widersacher in drei verschiedenen Erscheinungsbildern und begeisterte mit seiner perfekt gesungenen großen Arie. Weniger satanisch, eher als Mensch mit Machtansprüchen in vielen Facetten erscheint er Hoffmann in seinen, vom Alkohol verdichteten, neurotischen Fantasien und Trugbildern als Coppélius, Dappertutto und Miracle, in denen dieser den Stadtrat Lindorf, seinen Rivalen in der Liebe zu Stella, sieht.
Auch bei den kleineren Rollen gab es sowohl sängerisch als auch mit typischen Charakterstudien aufwartende und in ihrer äußeren Erscheinung sehr gut passende, dem Leben abgeschaute Besetzungen. Zu ihnen gehörten: die beeindruckend singende Catherine Carby als Geist von Antonias Mutter, Eric Halvarson als Antonias biederer Vater Crespel und als Spalanzani Christophe Montagne, ein auch äußerlich typischer Charakter.
Vincent Ordonneau machte nach seinen Auftritten als Andrès, Cochenille und Pittichinaccio ein gekonntes Kabinettstück voller köstlichem Humor und Komik aus seiner Rolle als Frantz.
Des Weiteren wirkten mit: David Junghoon Kim als Nathanel, Charles Rice als Hermann und Yuriy Yurchuk als Schlemil sowie Jeremy White als Gastwirt Luther, alle glaubhaft in ihrer Rolle. Nur bei Olga Sabadoch hätte man gern als zurückkehrende gefeierte Operndiva Stella, die dann doch lieber den Stadtrat als den stockbetrunken Hoffman nimmt, mehr Ausstrahlung gesehen, denn auch in einer kleinen stummen Rolle können die Darsteller viel Wirkung erreichen.
Nun war schwer zu erkennen, wieviel von den, jetzt weit verbreiteten, modernen Inszenierungs-Elementen in Schlesingers Inszenierung durch Revival-Regisseur Daniel Dooner eventuell „eingestreut“ wurde, z. B. der übliche Flitterregen vom teuflischen Widersacher Miracle oder die jetzt opernweit anzutreffenden, nur mit Hemdchen und Höschen bekleideten kleinen Kinder mit Blumen im Haar in Giuliettas verführerischem Gemach (bei denen auch das Söhnchen von Christine Rice mitwirkte), die eigentlich keine dramaturgische Funktion hatten. Wem sollten sie denn gefallen???
Unter der Leitung von Richard Farnes bot das Orchestra of the Roal Opera House eine sehr gute Basis für den Gesang in seinen Superlativen einer herausragenden Besetzung bis in die kleineren Partien in dem von Sclesinger großangelegten Psychodrama, ein würdiger Abschied von einer großartigen Inszenierung, der schwerfällt.
Ingrid Gerk