Live aus dem Royal Opera House London im UFA Kristallpalast Dresden: “GUILLAUME TELL“ MIT JOHN OSBORN – 5.7.2015
Es war heiß in Dresden, furchtbar heiß wie überall weit und breit, 36°C im Schatten und mehr, aber im Ufa Kristallpalast in Dresden herrschte Wohlfühlatmosphäre. Da waren es im großen Kinosaal nicht nur „gefühlte“, sondern reale 22,5°C (klimatisiert), so dass man es gut viele Stunden (mit 3 Pausen) bei der großen vieraktigen französischen Oper „Guillaume Tell“ aushalten konnte. Es ist Gioachino Rossinis „allerletzte“ Oper. Er schrieb sie als Auftragswerk für Paris. Sie steht jetzt im Royal Opera House London zum ersten Mal nach 23 Jahren auf dem Spielplan. Wegen der hohen Anforderungen an den Tenor für die Rolle des Arnold Melcthal mit zahlreichen hohen C und 2 hohen Cis wird sie sehr selten aufgeführt.
John Osborn erreichte aber gerade diese Spitzentöne mit Bravour, konnte extrem lange aushalten und auch sonst sehr überzeugen, nicht nur mit seiner großen, exzellent gesungenen Arie gegen Ende der Oper.
Mit sehr, sehr schöner, voll klingender, würdevoller Stimme beeindruckte auch Gerald Finley als Guillaume Tell, wohingegen Enkelejda Shkkosa als seine Frau Hedwige weniger eindrucksvoll wirkte. Um bei der Tell-Familie zu bleiben: Sein „Sohn“ Jemmy wurde von einer Frau mit allen weiblichen Attributen, Sofia Fomina, so lebensecht verkörpert, dass man selbst bei herangezoomter Mimik immer noch einen „echten“, lebhaften Jungen vor sich zu haben dachte, und sie sang perfekt und mit schöner Stimme.
Großartig, eindrucksvoll, und erschütternd sang Malin Byström die Mathilde. Eric Halverson wirkte sehr glaubwürdig als (alter) Melcthal und spielte auch gut, sang allerdings ziemlich leise, so dass sein Gesang mitunter kaum wahrgenommen wurde, oder lag es an der Aufstellung der Aufnahmemikros (Leinwandadaption: Jonathan Haswell)?
In weiteren Rollen wirkten Enea Scala (Ruodi), Samuel Dale Johnson (Leuthold), Michael Colvin (Rodolphe), Michael Lessiter (Jäger), Alexander Vinogradov (Walter Furst) und Nicolas Courjal (Gesler) mit.
… und da gab es noch eine (rätselhafte) Gestalt im schönen, historischen, märchenhaft farbigen Kostüm (Kostüme: Carla Teti), eine stumme Rolle, die man vielleicht als „Vater Schweiz“, statt Mütterchen Erde (?), Schweizer Tradition, Heimatverbundenheit und/oder Bodenständigkeit deuten könnte.
Die Bodenständigkeit der Schweizer sollte in der ziemlich „gewöhnungsbedürftigen“ Regie von Damiano Michieletto auch darin zum Ausdruck kommen, dass der gesamte Fußboden mit (Pseudo-)„Erde“ („Heimaterde“) belegt war, in der die Schweizer wühlten, wenn sie ihren Frust bewältigen wollten, oder ihre (nicht sonderlich ästhetischen) freien Oberkörper mit Blut und Erde beschmierten, wenn es um Widerstand und Kampf gegen die Habsburger, die hier auch als Deutsche bezeichnet werden, ging, bis zur Nennung des „Deutschen Reiches“ und Naziuniformen a la Offiziersfeier mit weißgedeckter Tafel und schlechtem Benehmen gegenüber den gedemütigten Schweizer Frauen. Warum muss es eigentlich immer die Nazizeit sein, Kriege und Kämpfe hat es auch in ganz Europa zu allen Zeiten gegeben, auch in der Zeit, in der die Oper spielt.
Als „Bühnenmöblierung“ (Paolo Fantin) gibt es viele Garten- und andere Stühle (lange nicht mehr auf einer Bühne gesehen!), ein eisernes Bett, später auch ein Kronleuchter im Wald und einen kahlen, entwurzelten Baum als Symbol für das „abgestorbene“, darniederliegende Land, vor und um den sich vieles symbolhaft abspielt wie auf einem mittelalterlichen Gemälde, wo viele Episoden und Begebenheiten gleichzeitig zu sehen sind: die Apfelschussszene, in die die oben genannte Sagengestalt unmittelbar eingreift, Mathilde und Melcthal jun. sowie Frau Tell am Küchentisch.
Ansonsten gibt es viel Gewalt, Vater und Sohn (später, wenn es ernst wird wegen dem Apfel, sind sie nett zueinander), die Männer untereinander, die immer gleich anfangen zu streiten und zu raufen. Die realistische Handlung tritt dabei in den Hintergrund, wird aber sehr aktiv, wenn die sehr moderne Armee der „Österreicher“ in bedrohlichem Schwarz mit modernen Schusswaffen die schweizerischen Dorfbewohner in dramatischen Zuspitzungen drangsaliert. Und es gibt eine eigentlich völlig überflüssige Szene, wo die Dorfbewohnerinnen in Vielzahl ihre Kinder (mit Unterwäsche) baden. Sollten da die „Pädophilen“ auch etwas von der Oper haben?
Doch zurück zur Musik, die doch nach wie vor in einer Oper die Hauptrolle spielt und auch weiterhin spielen sollte. Da gleich viele sehr gute Sängerinnen und Sänger zu erleben waren, konnte man die Regie, die hinter dem hohen musikalischen Niveau zurückblieb, eigentlich vergessen.
Neben den sehr guten Solisten waren auch Chor und Orchester ein musikalischer Genuss. Das Orchestra of the Royal Opera House spielte unter der Leitung von Antonio Pappano in sehr guter Abstimmung und angemessener Zurückhaltung, um den Solisten die volle Entfaltung ihrer gesanglichen Fähigkeiten zu ermöglichen. Vielleicht hatte da auch die Leinwandadaption eine gute Aktie daran (?). Der Royal Opera Chorus (Einstudierung: Renato Balsadonna) sang in jeder Situation sehr ausgewogen und mit schönen Stimmen und ergänzte passend die Szenen. Es gab sehr schöne und ausdrucksvolle Ensembleszenen in perfekter Abstimmung zwischen Solisten, Chor und Orchester.
Diese Aufführung war vor allem ein musikalischer Genuss, der in Erinnerung bleibt.
Ingrid Gerk
Ingrid Gerk