Filmstart: 24. Februar 2017
LION USA, Australien, GB / 2017
Regie: Garth Davis
Mit: Dev Patel, Sunny Pawar, Nicole Kidman, Rooney Mara u.a.
Ja, man weiß es, das Leben schreibt die unglaublichsten Geschichten. Man würde sie einem Drehbuch nicht glauben. Von einem fünfjährigen Jungen aus einem kleinen indischen Dorf, der durch unglückselige Umstände allein und verloren in der Millionenstadt Kalkutta landet, bedroht an Leib und Leben, der nach Australien adoptiert wird, sich dort integriert und dennoch eine Vergangenheit, von der er so wenig konkret weiß, nicht vergessen kann. Und der so lange sucht, bis er seine richtige Mutter wieder findet…
Die Geschichte ist wahr, Saroo Brierley hat sie aufgeschrieben, und „A Long Way Home“ wurde ein Bestseller. Es ist auch der Stoff, aus dem Hollywood-Träume sind, also wurde nun ein Film daraus, und sechs „Oscar“-Nominierungen gab es auch, sogar für den „besten Film“, für Dev Patel und für Nicole Kidman jeweils für die „beste Nebenrolle“, beste Kamera und bestes adaptiertes Drehbuch, schließlich für beste Filmmusik. Das, was wirklich phantastisch gelungen ist, nämlich das so genannte „Szenenbild“, das gnadenlosen Indien, da wurde auf die Nominierung vergessen… Aber all das beweist nur, dass Hollywood trotz der vielen „harten“ Filme, die heuer im Vordergrund stehen, seine Liebe für herrlich tränenseligen Kitsch noch nicht vergessen hat…
Der Film spielt lange Zeit in Indien und zeigt das Schicksal des kleinen Saroo, gespielt von Sunny Pawar, ein atemberaubend süßer Junge. Er lebt in Khandwa (Madhya Pradesh), ein verlorener Fleck in Zentralindien mit 200.000 Einwohnern. Die offenbar verwitwete Mutter, die ihre beiden Söhne und die Baby-Tochter innig liebt, bringt sie durch schwere Arbeit im Steinbruch durch. Gaddu, der ältere Sohn, der sich rührend um den jüngeren Bruder kümmert, versucht stets, etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Als er eines Abends weggeht, besteht Saroo darauf, ihn zu begleiten. Gaddu lässt den Kleinen auf einer Bank am Bahnhof zurück, mit dem strikten Auftrag, sich keinesfalls wegzurühren. Aber die Zeit vergeht, und Gaddu kommt nicht zurück. Als Saroo am Bahnhof herumstreicht, steigt er auch in einen Zug, schläft ein – und dieser fährt los. 1600 Kilometer durch ein Land, das eigentlich ein Kontinent ist, eingesperrt in einen Güterzug.
Als der Junge in Kalkutta landet, einer Millionenstadt, deren Sprache er nicht spricht, ist er verloren. Er kennt nicht einmal den Namen des Ortes, aus dem er stammt. Er lebt als Straßenkind, und als er von einer scheinbar freundlichen Frau aufgelesen wird, ist klar, dass ihr Freund ihn „verkaufen“ will – ob für Sex, ob für Organe, man erfährt es nicht, er läuft rechtzeitig davon. Das Schicksal im Waisenhaus, wo man hunderte Kinder zusammen fängt, scheint aussichtslos. Und doch ist da eine Frau, die sich bemüht, für diese verlorenen Geschöpfe Adoptiveltern zu finden – und so findet sich der kleine Saroo eines Tages in Tasmanien, bei einem weißen Ehepaar, das ihn liebevoll und warmherzig empfängt und das mit Saroo, der klug und willig ist, einen Haupttreffer macht… (Später bringt dieselbe Frau einen weiteren Buben aus Indien, und dieser ist so gestört, dass er für das Ehepaar Brierley mit seiner Engelsgeduld nur eine Katastrophe und für Saroo als „Bruder“ eine schwere Belastung ist.)
Dieser erste Teil des Films, der ganz dem hinreißenden kleinen Darsteller gehört, abgesehen davon, dass man viel von dem staubigen, armen, hoffnungslosen Indien zu sehen bekommt, endet dann eher abrupt. Der Sprung über 20 Jahre bringt uns Dev Patel (der immer unser „Slumdog Millionär“ sein wird, obwohl er seine großartigste Leistung als indischer Mathematiker S. Ramanujan in „Die Poesie des Unendlichen“ geliefert hat) in der Rolle des erwachsenen Saroo. Er ist voll integriert in die australische Multi-Kulti-Gesellschaft, hat eine weiße Freundin, könnte mit allem zufrieden sein – und wird von einer Unruhe getrieben, die aus seinen unbewältigten Kindheitserinnerungen erwächst, die brockenweise in seinen Träumen auftauchen…
Ist Regisseur Garth Davis schon der erste, Indien-Teil des Films recht rührselige geraten, so geht es in Australien so weiter, Dev Patel spielt voll von freundlicher Ausstrahlung dennoch exzellent die gespaltene Loyalität, die Sehnsucht nach Mutter und Bruder, die Zuneigung zu den Menschen, die ihm vollgültige Eltern waren (und, ein interessanter Aspekt, selbst keine Kinder haben wollten, obwohl es möglich gewesen wäre, um lieber Kindern aus der Dritten Welt eine konkrete Lebenschance zu geben): Nicole Kidman, die oft so spektakuläre Schönheit war, spielt hier die liebevolle, oft auch bekümmerte australische Durchschnittsfrau, David Wenham ihren Mann, Vorzeige-„Weiße“, die wohl auch als Vorbilder gedacht waren. Rooney Mara (die nicht viel zu vermelden hat – für eine Schauspielerin, die immerhin einmal Lisbeth Salander in der amerikanischen „Verblendung“-Verfilmung war) ist die Freundin von Saroo , der nun Brierley heißt und sich mit Hilfe von Google Earth, unendlichen Recherchen und dauernder Befragung seiner Erinnerung den Weg in das Dorf zurückbahnt.
Man tut sich mit der Rührung schon schwer, als er endlich durch die alten Gassen geht – und die Enttäuschung, als der Verschlag, der ihm einst als Zuhause diente, von Brettern vernagelt ist. Aber in einer so kleinen Gemeinschaft weiß jeder alles von jedem, man führt ihn zur alten Mutter, die ihn sofort erkennt und nie die Hoffnung aufgegeben hat, und zur Schwester, die er nur als Baby gekannt hat… man schluckt, weil der geliebte Bruder tot ist, und man ist doppelt gerührt, wenn sich dann australische und indische Mutter in die Arme fallen und sich gegenseitig danken.
Es ist – bei allem Staub Indiens – doch eine sehr schön geglättete Geschichte, die man hier sieht, was besonders auffällt, wenn am Ende (wie neuerdings üblich bei Filmen, die auf wahren Begebenheiten beruhen) dann die Fotos der „Echtmenschen“ erscheinen, die diese Schicksale erlebt haben. Und so leinwandtauglich wie Patel oder Kidman sind sie doch nicht. Na ja, „Lion“ ist ein Film, der die Wirklichkeit schöner macht. Dafür sind bei den „Oscars“ heuer genügend Filme dabei, die die Wirklichkeit um der Wirkung willen vermutlich noch hässlicher machen, als sie ohnedies ist…
Renate Wagner