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LINZ/Musiktheater Großer Saal: DIE BRAUTSCHMINKERIN – Tanztheater von Mei Hong Lin. Uraufführung

11.02.2017 | Ballett/Performance

Linz:„DIE BRAUTSCHMINKERIN“– Premiere am Musiktheaterdes Landestheaters, Großer Saal, 10. 02. (österr. Erstaufführung)

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Andressa Miyazato und Ensemble. Copyright: Dieter Wuschanski

Tanztheater von Mei Hong Lin frei nach Motiven der taiwanesischen Autorin Li Angin, Musik von Michael Erhard unter Mitarbeit von Li-YuYou und Yuan-KengYu

Wie gut sind Sie, geschätzte Leserin, geneigter Leser, in der Geschichte von Formosa oder, wie diese knapp 36.000 km² große Insel zwischen China und Japan seit dem 16. Jhd. heißt, Táiwān bewandert?Daß sich nach dem chinesischen Bürgerkrieg die nichtkommunistischen Truppen unter JiǎngJièshí (bei uns Tschiang Kai Schek geschrieben) dorthin zurückzogen und einen eigenständigen chinesischen Staat gründeten, der lange Zeit als Vorposten im Kalten Krieg galt, wird wahrscheinlich geläufig sein. Aber da ist natürlich viel mehr.

Ein eminentes Datum in der taiwanesischen Geschichte, in unseren Maßstäben dem 15. Juni 1927 oder 12. Februar 1934 gleich, ist der 28. Februar 1947: an diesem Tage kam es zu Demonstrationen gegen Korruption und Repression seitens der Regierungspartei Guómíndǎng, die mit einem Massaker (die Rede ist von bis zu 30.000 Toten) an der Bevölkerung beantwortet wurden; diesem folgte eine fast 40-jährige Zeit der unterdrückerischen Einparteiherrschaft. In diesem Umfeld spielt dieErzählung, die dem 2011 in Darmstadt uraufgeführten Tanztheaterstück zugrundeliegt: es geht um die Unterdrückung und Verdrängung der Erinnerung an den „228-Zwischenfall“ und deren Auswirkung auf das Individuum. Zitiert aus dem Programm: „(Wir sehen das) Schicksal einer Frau, die nach der Ermordung ihres Mannes ganz auf sich allein gestellt ist. Um für sich und ihren Sohn sorgen zu können, schminkt sie junge Bräute für deren Hochzeit. Die maskengleiche Schminke ist dabei Sinnbild ihres eigenen Seins, in dem sie die eigentliche Wahrheit wie hinter einer Maske, zu überdecken sucht. Als der Sohn plötzlich stirbt, tritt jedoch die ungeschminkte Wahrheit zu Tage …“Wobei noch anzumerken ist, daß auf Ausstattung und Aussehen einer Braut am Hochzeitstage in Táiwān besonders großer Wert gelegt wird, was „Brautschminkerin“ tatsächlich zu einem verbreiteten Beruf dort macht (und dramaturgisch im Sinne Ibsens oder Schnitzlers steht – SarahK. Schäfer und Ira Goldbecher besorgten die theatralische Einrichtung).

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Nuria Gimenez Villaroya, Shang-Jen Yuan. Copyright: Dieter Wuschanski

Bühne und Kostüme Dirk Hofacker: Der tiefe Raum wird nach hinten mittels drehbarer schwarzer, an der Oberfläche strukturierterPaneele abgegrenzt, die oft Blicke auf farbige Hintergründe freigeben. Und dann stehenab etwa Mitte der Aufführung dutzende Steinquader auf der Bühne, mit „228“ beschriftet; Blickfang im Vordergrund, in den Orchestergraben hineingebaut, ist eine Art Nest, das von Stacheldraht umkränzt ist… Eine perfekte „Spielwiese“ für das intensivste Tanztheater, das man sich vorstellen kann! HofackersKostüme nehmen amrealen Aufwand für die Bräute Maß – in einzelne Stücke wurden bis zu 2 Wochen Arbeit investiert: Berberseide, selbstgefilze Stoffe, das alles in traditionelle, „typisch taiwanesische“ Formen oder aber auch in Phantasieschnitte gebracht; dazu aufwendige Brautkostüme mit Wolken von Schleiern… und die Repräsentanz des unterdrückerischen Regimes in stilisierter Uniform.

Michael Erhard leitet die Aufführung vom Klavier sowie diversen Synthesizern und Samplern aus. Flöte, Klarinette und Saxophon Jens Hunstein, Schlagzeug und alle möglichen weiteren Schlagwerkzeuge inklusive einer Trine (ein etwa christbaumförmiges, im Grundriß dreieckiges, aus einem Stahlstreifen gebogenes Schlaginstrument, vom Brucknerorchester für „Les Misérables“ beschafft) Ewald Zach, Violoncello Lisa Kürner. Yuan-Keng Yu (Perkussion und Gesang) und Li-YuYou, die ebenfalls singt und bravourös,mit großem Einfühlungsvermögen in den Tanzund Suggestionskraft die Qin, eine sogenannte „Wölbbrettzither“, ein seit 3000 Jahren bekanntes Instrument, spielt, brachten den Kolorit des Handlungsortes ein und schafften mitunter geradezu hypnotisierende Klangwelten.

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Geoffroy Poplawski, Andressa Miyazato. Copyright: Dieter Wuschanski

Tanzdirektorin Mei Hong Lin, gebürtige Taiwanesin, wuchs in von den Machthabern gewünschter Unwissenheit auf; erst als sie 1985 nach Deutschland kam, erfuhr sie vom 28. Februar und seinen Folgen. So sind ihr Inszenierung und Choreografie (Einstudierung: Christina Comtesse) dieser Geschichte ein persönliches Anliegen (mit zeitloser Allgemeingültigkeit); und das merkt man in jeder Minute dieses intensiven Abends.

Schon wenn man in den Saal kommt, liegt im „Stacheldrahtnest“ die Leiche (Bernardo Pereira Ribeiro) des Sohnesder Protagonistin – Andressa Miyazato mit unglaublich intensivem, oft akrobatischem körperlichem Einsatz und atemberaubendem Ausdruck; deren Totenklage bestimmt die erste Viertelstunde der Aufführung. Es folgt ein geradezu der Schwerkraft Hohn sprechender pas de deux mit ihrem zweiten Ich aus der Vergangenheit (Nuria Gimenez Villarroya).

Das buchstäblich blutrünstige Regime (Geoffroy Poplawski) greift ein, als sich das Volk zu Protesten versammelt – besonders aufwühlend fällt eine Szene aus, in der (durch spotlights jeweils kurz aus dem Dunkel hervorgeholt) Tänzerinnen und Tänzer Qualen der Folter verdeutlichen. Nach dem Massaker erscheinen die schon erwähnten Gedenksteine– zuerst als Podest für die Seelen der Getöteten, später für die Bräute; auch diese werden der Vergänglichkeit anheim fallen…

Es werden immer wieder eindrucksvollste Bilder arrangiert, nicht zuletzt durch den Einsatz einer großen Komparserie, die als konzentriertes und diszipliniertes Bewegungsensemble das Geschehen kommentiert und intensiviert. Die in der Grundstruktur Jazzstilen der 1950er angenäherte, aber einen „taiwanesischen Überbau“ aufweisende Musik trägt zur Intensität des Erlebnisses wesentlich bei – sei es durch bewegende Gesangseinlagen, sei es durch die intensiven Klänge der Qin.

In wesentlichen weiteren Solistenrollen: der Ehemann (Pavel Povrazník), der Sohn (Shang-Jen Yuan), Bräute (Lara Bonnel Almonem, Chiung-Yao Chiu, Tura Gómez Coll und weitere Ensemblemitglieder). Außer den Gästen von der Statisterie weist die Besetzungsliste weitere 17 Namen auf – Chorus, teils schon angeführte in Zweitrollen etc.: ausnahmslos wunderbare Künstlerinnen und Künstler mit atemberaubender Körperbeherrschung und intensiver Darstellungskraft.

Nach dem bedrückenden Schluß, der symbolisiert, daß es aus dem Gefängnis der Erinnerung kein Entrinnen gibt, nach gebührender Stille: tosender, begeisterter Applaus, mit Betonung der Solistinnen und Solisten, vor allen Frau Miyazato, für die Musik, für das Produktionsteam… 15 Minuten lang.

Wie Intendant Schneider bei der Premierenfeier sagte: „Der Abend zeigte nicht nur, daß Tanz eminent politisch sein kann, sondern lieferte auch den Beleg, daß man für wirksames politisches Theater nichts an die heutige Zeit anpassen oder mit TV-Realismus arbeitenmuß, sondern daß die Bilder alleine aus ihrer Zeit heraus unübertrefflich wirken!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Petra und Helmut Huber

 

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