Linz: „MUSIC FOR A WHILE“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 14. 10.2017
Tanzstück von Mei Hong Lin, Musik von Henry Purcell, Georg Friedrich Händel, Claudio Monteverdi, Christina Pluhar und anderen
© Vincenzo Laera
Der Tanz als Metapher für das menschliche Leben ist natürlich nicht neu – solche Ideen gab es schon in der Antike (von der sich Isadora Duncan inspirieren ließ), der „Ausdruckstanz“ des frühen 20. Jahrhunderts ist so gedacht worden und war Geburtshelfer des Tanztheaters. Vielleicht kommt auch Ettore Scolas Film „Le Bal“ von 1983 in den Sinn, der Schicksale im und den Zeitraum von ca. 1925 bis in die 70er anhand eines Pariser Vorstadt-Tanzetablissements (nicht nur) mit Gesellschaftstänzen darstellte.
1692 schrieb Henry Purcell eine Musik für das Theaterstück „Oedipus“ von John Dryden und Nathaniel Lee. Der zweite von dessen vier Sätzen gab dem heutigen Abend den Titel – ein Musikstück, das so tröstlich sein soll, daß es sogar die gar schröckliche Erinnye Alecto betören kann, bis hin zum Ausfall ihrer Schlangenhaare.
Die Grazer Harfenistin und Lautenspielerin Christina Pluhar, jetzt in Paris beheimatet, hat vor 17 Jahren ein Ensemble namens „L’Arpeggiata“ gegründet, welches alte Musik genauso wie Jazz-Idiome oder Mariachi-Klänge beherrscht. Und so konnte man sowohl unverfälschtes Frühbarock wie auch Töne hören, die man vielleicht Keith Jarrett oder Jacques Loussier zuordnet. Und um das Niveau zu illustrieren, auf dem das stattfindet: der große italienische Jazzer Gianluigi Trovesi sitzt da mitten im Ensemble und lässt seine Klarinette tanzen… zusammen mit Frau Pluhar, die von der Theorbe aus die Aufführung leitet, und Doron Sherwin (Zink), Adriana Alcaide (Barockgeige), Rodney Prada (Gambe), Josep Maria Marti Duran (Barockgitarre, Laute), Sergey Saprychev (Schlagwerk), Francesco Turrisi an Klavier, Orgel und Cembalo sowie Boris Schmidt mit seinem Kontrabass: alles Meister an ihren Instrumenten.
Die vielen gesungenen Stücke werden von Céline Scheen (Sopran, der aber leicht auch das Mezzoregister erreicht) und den Altus Vincenzo Capezzuto meist aus proszeniumsnaher Position mitgestaltet. Das Instrumentalensemble nimmt, wenns hoch kommt, ein Sechstel des Orchestergrabens ein und wird über Mikrophone verstärkt; auch der Gesang bekommt „Stütze“ – Frau Scheen ist aber zumindest aus unserer Position ganz vorne überwiegend direkt zu hören. Jedenfalls wird hervorragend abgemischt (Ton: Robert Doppler mit Frédéric Braye). Faszinierend, wenn Frau Scheen und Herr Capezzuto im Duett singen – selbe Tonlage, doch verschiedene Färbung der hervorragend kontrollierten und samtigen Stimmen!
Wir hören zu Beginn und im Finale Giovanni Girolamo Kapsbergers Schlager „Canario“, und dann unter anderem Händels „Lascia ch’io pianga“, Didos Lamento „When I’m Laid in Earth“ von Purcell, das textlich durchaus düstere italienische Kinderlied „Ninna Nanna Ninna Oh“ und ein ergreifendes „Stabat mater“; die titelgebende „Music“ erklingt etwa zur Halbzeit der gut 100 Minuten dauernden Aufführung.
Andressa Miyazato. © Vincenzo Laera
Rund um diese musikalisch so reich angerichtete Tafel hat Mei Hong Lin (Dramaturgie Katharina John) in elf Kapiteln nichts Kleineres als das Universum des Menschlichen abgebildet, benannt z. B. „Trauma des Verlustes“, „Aspekte der Liebe“ oder „Tod und Erlösung“. Zusammengehalten wird diese Szenenfolge durch die Figur einer Braut (Andressa Miyazato), welche anfänglich, offensichtlich versetzt, an einer Bar wartet, spätere Kapitel, oft intensiv tänzerisch kommentierend, mit(er)lebt, und erst zum guten Ende von ihrem Bräutigam in die Arme geschlossen werden kann. Dazwischen sehen wir Menschen, die sich verlieben und trennen, einen ausufernden Polterabend an der Wodkabar, und sogar in den Krieg geht es (mit dem bedrückenden Resultat des „Stabat mater“). Oftmals herrscht Chaos auf der Bühne – nur scheinbar freilich, denn wenn man die wirbelnden und fliegenden Körper genau beobachtet, zeigt sich die genaue Choreographie; immer wieder, durch die Kombination von Musik und Bildern, zutiefst emotionelle Momente.
Die Gestaltung lag bei Dirk Hofacker: die Bühne ist von glitzernden Perlenvorhängen umkränzt, einige bei Bedarf verschiebliche Podeste gliedern den in großer Tiefenausdehnung angelegten Raum. Zentral hängt ein wandlungsfähiges lusterartiges Objekt. Suggestive Lichtstimmungen: Johann Hofbauer. Viel Glitzer auch bei den Kostümen, nebst modernen Festanzügen, aufwendigen Brautkleidern oder eigenwillig gestalteten Tarnanzügen.
Ensemble. © Vincenzo Laera
Das Ensemble (Rie Akiyama, Lara Bonnel Almonem, Kayla May Corbin, Tura Gómez Coll, Mireia González Fernández, Rutsuki Kanazawa, Gyeongjin Lee, Jacqueline Lopez, Alessia Rizzi, Yu-Teng Huang, Hodei Iriarte Kaperotxipi, Valerio Iurato, Caspar Leonard Knops, Filip Löbl, Urko Fernandez Marzana, Edward Nunes, Pavel Povrazník, Jonatan Salgado Romero und Andrea Schuler) ist „mehr in der Luft als auf dem Boden“ und glänzt durch intensiven Ausdruck oder schwarzhumorige Details wie einer Reanimation auf offener Bühne (worauf das Herz des Betroffen besonders heftig wieder schlägt); außerdem sind viele sehr schnelle Umzüge zu absolvieren.
Gegen Ende ein bedrückender Soloauftritt als sterbender alter Mann im Rollstuhl: Fritz Brunner.
Das Publikum spendet tosenden Applaus.
Es sind noch 7 Aufführungen dieses überwältigenden Stückes Tanztheater mit sensationeller Musik vorgesehen, bis 17. Dezember dieses Jahres.
Petra und Helmut Huber