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LINZ: TERRA NOVA oder DAS WEISSE LEBEN von Moritz Eggert/ Franzobel und Rainer Mennicken. Uraufführung

27.05.2016 | Oper

Uraufführung am Landestheater Linz im Musiktheater am 26. Mai 2016

Terra Nova oder Das weiße Leben
Oper in drei Akten
Libretto von Franzobel und Rainer Mennicken, Musik von Moritz Eggert
In deutscher Sprache mit Übertiteln
Ein Auftragswerk des Landestheaters Linz

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Matthäus Schidlechner, Gotho Griesmeier. Copyright: Ursula Kaufmann für Landestheater

Der 1965 in Heidelberg geborene und in München lebende Moritz Eggert hat neben vielen anderen Werken verschiedenster Genres bereits 11 Opern geschrieben, die seit 1988 von München bis Bonn und von Darmstadt bis Bremen zur Uraufführung gelangten; ein Skandälchen mit Staatsoper, Fußball und Ballett (2008) hat er auch miterschaffen, aber auch die Eröffnungszeremonie der Fußball-WM 2006. Eigentlich wollte er als nächstes die Apollo-11-Mission, also die Mondlandung von 1969, zur Oper machen, jedoch…Das Landestheater Linz trat mit einer wesentlich weiter gesteckten astronautischen Idee an ihn heran: Intendant Rainer Mennicken schrieb zusammen mit Franzobel, Bachmann-Preisträger des Jahres 1995 und bereits mit dem Libretto zu E. L. Leitners „Fadinger“ in Linz an einer Opern-Uraufführung Feder-führend beteiligt, eine Endzeitgeschichte, in der die Regierung einer unbewohnbar gewordenen Welt als Ausweg für die Menschheit den Transfer auf einen „Ersatzplaneten“ plant. Die Emigration auf einen Ersatzplaneten lag schon dem Roman „WhenWorldsCollide“ von Philip Wylie und Edwin Balmer (1933) und dessen Verfilmung von Rudolph Maté 1951 für Paramount in zuckerlrosa Technicolor zugrunde; die story dieser neuen Oper aber geht ganz anders aus, nämlich rabenschwarz – oder eigentlich weiß…

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Anaïs Lueken , Jaques Le Roux, Katerina Hebelkova. Copyright: Ursula Kaufmann für Landestheater

La Furadels Baus
(etwa: Das Frettchen aus der Wildwasserschlucht) ist eine 1979 gegründete katalanische Experimentaltheatergruppe, inzwischen von Operninszenierungen über alle Arten von Großevents bis zu(r Mitarbeit an) Filmen („Das Parfum“) international etabliert. Auch an den Eröffnungsfeierlichkeiten des Linzer Musiktheaters 2013 war die Truppe, mit einer Parzifal-Paraphrase, beteiligt. Einer ihrer Gründer ist CarlusPadrissa, und dieser hat für dieses Projekt die Regie übernommen. Während La Fura mit Wagner sehr viel zu tun hatte und hat, zählt sich Herr Eggert nicht zu den Wagner-Anhängern, jedoch mußte er feststellen, dass sich bei der Arbeit zu dieser Oper heimlich eine Leitmotiv-Technik eingeschlichen hatte. Padrissa hatte 2013 mit einer knappen, aber klaren Empfehlung Mennickens Interesse am Komponisten geweckt: „Goodguy!“, und man kann daher sagen, dass er sozusagen der Zeugungshelfer dieser „weltweit ersten Science-Fiction-Oper“ ist.
Die Geschichte (grundsätzlich von Franzobel verfaßt) beginnt mit einer Huldigung für den Herrscher „Ruler“. Doch bald merkt man: in diesem Land ist keineswegs alles in der demonstrierten allzu schönen Ordnung – eine Gruppe von Demonstranten oder eher Umweltguerilla, die Moonwalkers, bricht in das Fest ein und protestiert gegen die immer schlechter werdenden Lebensbedingungen auf unserer Erde, obwohl man das Kohle- und Erdölzeitalter längst hintersich gelassen hat. Geheimdienstchef Kolker wird vom Ruler ermahnt, sich um die Aufrührer besser zu kümmern. Diese werden peinlicherweise von Rulers geschiedener Gattin Lara angeführt, die sich später als chinesische Mondgöttin Chang’e entpuppt (diese Idee stammt übrigens aus dem Funkprotokoll von Apollo 11!). Die Astronomin Pandura findet inzwischen in einer fernen Galaxie einen Planeten, auf den die Erdbevölkerung fliehen könnte, der aber nicht erreichbar erscheint. Erst nach dem Einschlag eines Meteors bei Nowosibirsk eröffnet sich eine Möglichkeit dafür, denn dieser enthält eine bis dato der Wissenschaft unbekannte weiße Substanz, die sogar eine Erweiterung des Periodensystems der Elemente nötig macht. Diese eröffnet die Möglichkeit, durch „Wurmlöcher“ riesige Entfernungen im Weltraum auf kurzem Wege zu überwinden, sogar die sog. schwarze Materie (an der die Astrophysik von heute ja ziemlich kiefelt) als Problem einer weiten transgalaktischen Reise auszuschalten. Mit dieser neuartigen Technik wird ein Raumschiff gebaut, und drei Astronauten werden damit ausgesandt, um den neu entdeckten Planeten zu erforschen.

Allerdings steigt aus den Trümmern des Meteoriten auch eine anfangs nicht erkennbare Infektion, die die Menschen zu verändern beginnt – sie bekommen weiße Flecken auf ihrer Haut, ihre Emotionen, auch die Libido, beginnen zu verschwinden. Zuerst merkt man das am Verhalten des „Freiers“, eines Mathematikers namens Hawking, den die Reize der früheren Geliebten Rulers, Marilyn, die jetzt wieder als Hure arbeiten muß, plötzlich kalt lassen. Auch die aufkeimende Anziehung zwischen Kolker und Pandura wird durch die Infektion, die den Polizisten befallen hat, die Astronomin aber nicht, immer mehr gestört und schließlich unmöglich gemacht. Die drei Astronauten, die „völlig losgelöst“, nicht ganz ohne die Hilfe von Drogen, ihre Reise hinter sich gebracht, aber auch den Kontakt zur Erde längst verloren haben, landen auf dem neuen Planeten (oder nur in ihren Halluzinationen?) – und finden dort Chang’e und die ihren vor, in deren Machtbereich sie bleiben werden … samt ein paar Reminiszenzen an die erste Aufführung im Linzer Musiktheater 2013 („Die Spuren der Verirrten“). Ruler versucht derweil, zur Empörung Panduras, mit gefälschten Meldungen von einer erfolgreichen Reise der drei Raumfahrer das Volk bei Laune zu halten.

Auf der Erde hat sich die Infektion inzwischen immer weiter ausgebreitet – die Menschen werden „immer weißer“, ihre Emotionen erlöschen, aber sie altern und sterben auch nicht mehr. Sie sind zu Zombies geworden. Als einzig verbliebene „Normale“ irrt Pandura zwischen ihnen umher.

Der Text (Franzobel und Rainer Mennicken) fügt sich hervorragend zur Musik, auch wenn dessen Erstellungsgeschichte durch die auch sonst vielbeschäftigten Autoren sehr bunt ausfiel. Doch rechtzeitig zu Beginn der sehr ausgedehnten Proben, bei denen lt. Website des Komponisten „12 Sprachen gesprochen wurden, und nur zwei davon waren Deutsch“ war das Werk fertig. Er ist in Prosa gehalten, mit Ausnahme der Worte des kleinen Prinzen. Die Erzählung, die Handlungsabläufe sind ausgewogen, alles bleibt unter Spannung, es tun sich keine logischen oder ablaufbezogenen Lücken auf (Dramaturgie Ira Goldbecher), wobei, bei bislang unbekanntem Stoff, freilich auch eine wertvolle Unterstützung ist, dass die Untertitel (Lara Kühne) auch Anmerkungen zu Handlungsort und -verlauf enthalten.

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Katerina Hebelkova & Chor. Copyright: Ursula Kaufmann für Landestheater

Carlus Padrissa lässt, unterstützt durch die Choreografie der Massenszenen von Mei Hong Lin (mit Constantin Georgescu), auf der gelungen futuristisch-technisch-kalten Ausstattung von Roland Olbeter (mit Esterina Zarrillo) und mit ausgeklügelten Visuals von Valentin Huber alle Stücke spielen, die eine der komplexesten Theaterbühnen der Welt bieten kann. Z. b. wird Marylin’s rot beleuchtete Wirkungsstätte durch Verknüpfung der Bewegungen der großen mit einer darauf montierten kleinen Drehbühne schön langsam, völlig parallel zur Bühnenkante ausgerichtet bleibend, in den Hintergrund verschoben. Die Finalszene greift sogar auf eine Raumtiefe von 107 m zurück. Die meist (weit, aber nicht ganz so weit nach hinten) offene Bühne ist natürlich eine Hypothek für die Sängerstimmen. Die Massenszenen am Regierungssitz werden mit großen Hubplateaus realisiert, auch das höchst eindrucksvoll, an Bilder aus Nordkorea gemahnend. Bisweilen befinden sich sogar 120 Personen auf der Bühne.Dass das alles am Abend reibungslos funktioniert, ist auch das Verdienst von Inspizientin Susanne Pauzenberger, deren Arbeitsplatz dem Cockpit eines Jumbo-Jets gleicht.

Viele Details fesseln und verblüffen, etwa die über den Szenen am Forschungsinstitut Panduras wabernden Chromosomenstränge, und vor allem: das namensgebende Raumschiff „Terra Nova“ wird als Projektion auf einem Kulissenteil „hereingeschoben“, und vor dem Start wird es aufgerichtet – dabei sind offensichtlich die Bewegung der Kulisse an Seitzügen und die Einstellung/90°-Drehung der dazugehörenden Projektion so perfekt synchronisiert, dass man keinerlei Verschiebung oder sonstige Ungenauigkeit bemerkt. Natürlich wird auch der große, seit Eröffnung des Musiktheaters gerne als UFO bezeichnete, Leuchtkörper an der Decke des Zuschauerraumes in die Szenerie einbezogen. Und die Darstellung des (freilich vielleicht nur imaginierten?) fremden Planeten ist natürlich la Furadels Baus pur, was auch an den Kostümen von Chu Uroz liegt; sonst bleiben diese eher sachlich, bis zum Schluß, als alles in Weiß gleichgeschaltet ist.

Moritz Eggerts
Musik bietet zu dieser faszinierenden und bewegenden Szenerie die absolut adäquate Basis und treibt Handlung und Emotionen an. Auch wenn gelegentlich Zitate und vor allem sehr viele unterschiedliche Musikstile verwendet werden, sind diese doch weit von purer Kopie entfernt, vielmehr machen sie den Eindruck eines zusammengehörigen, perfekt gefügten Ganzen. Der Beginn liegt in einer Zwölftonwelt, zwischendurch wird geswingt (faszinierend, wie perfekt daspräzisest musizierende Bruckner Orchester unter Dennis Russell Davies die oft plötzlichen Umbrüche zwischen den Musikidiomen schafft), der Auftritt Laras/Chang’es erinnert an die vokalisenumspielten Ausflüge Duke Ellingtons in die symphonische Dichtung, wie sie in den 50er-Jahren klangen. Marilyns Szenen, für eine Musicalsängerin angelegt, verwenden auch diese musikalische Sprache – aber entschieden in der trockenen Geschmacksrichtung Sondheim, nicht kandierter Webber. Mitunter läßt sich auch Saint-Éxuperys kleiner Prinz hören, der in der dahinsiechenden Welt eine letzte Rose bewahrt, die freilich nicht silbern ist, aber (am Vibraphon) so klingt. Und der deklarierte-Nicht-Wagnerianer Eggert schreibt als Einleitung zum dritten Akt, nach der Pause, eine Musik, die klingt, als wäre Wagner so alt wie Verdi geworden und hätte den Trauermarsch aus der Götterdämmerung, lange nach dem Parzifal, noch einmal neu überdacht. Dazu befragt, meinte der Komponist, dass einen manchmal Dinge, die mein eigentlich nicht so mag, dann doch nicht loslassen, gar ereilen… Insgesamt jedenfalls musikalisch spannend, ja aufregend, mit genauer Charakterisierung der Personen und Situationen – und als Reminszenz an die Musik der klassischen science-fiction-Filme der 50er darf in der Partitur ein Theremin nicht fehlen.

Ruler ist der Tenor Jacques le Roux; sein bisher stimmlich „heldischester“ Auftritt in Linz, und trotz der herausfordernden Bühnengestaltung und Orchesterbesetzung (80 Musikerinnen und Musiker im Graben) schafft er das, ohne seine Stimme zu überdehnen. Bei besonders tief aus dem Bühnenraum kommenden Auftritten bekommt er zwar auch Mikrophonstütze – allerdings steht ihm die als Reden schwingendem Präsidenten auch dramaturgisch plausibel zu, und man kann nicht sagen, daß er diese unbedingt nötig hätte. Lara/Chang’e wird von Mari Moriya mit Präzision und wunderbar kontrollierter, perfekt disponiertem (Koloratur)Sopran gegeben, und auch ihr körperlicher Einsatz ist bewundernswert. Die Musicalsolistin Anaïs Lueken gibt Marylin, Rulers (Ex)Geliebte, natürlich mit obligater Mikrophonstütze; auch sie in musikalischer und darstellerischer Höchstform.

Das – vergebliche – Liebespaar der Oper, die Astronomin Pandura und der Polizeichef Kolker (nebenbei Laras Bruder) sind Katerina Hebelkova und Martin Achrainer. Erstere hat uns in Linz mit ihrem wunderbar samtigen und tragfähigen Alt und ihrer beeindruckenden Bühnenpräsenz schon viel zu lange gefehlt, und ihre Rückkehr wurde entsprechend gefeiert. Herr Achrainer hat mit dieser Uraufführungsrolle zu seinen zahlreichen hervorragenden Verkörperungen im Baritonfach eine weitere bejubelte hinzugefügt.

Die drei Raumfahrer Armstrong, Titov und Dreier werden von Sven Hjörleifsson, Michael Wagner und Matthäus Schmidlechner als vorzüglich ausdifferenzierte Charaktere stimmlich und mimisch erstklassig gegeben. Ihre Gattinen Ann, Mira und Yioti (Elisabeth Breuer, Kerstin Eder, Gotho Griesmeier) sind ihnen in Gesang und darstellerisch adäquat.
Lutz Zeidler demonstriert als Freier (Sprechrolle) den beginnenden Verfall durch die „weiße Infektion“ beklemmend deutlich. Dem schwindelfrei hoch über dem Geschehen schwebenden kleinen Prinz leiht Benjamin Gotthard seine klare und präzise Knabensopranstimme.
Aus dem Lautsprecher ertönt bei einigen Massenszenen die Stimme des Komponisten.

Der Chor (mit den Solisten Csaba Grünfelder, Ulf Bunde und Marius Mocan) wurde von Georg Leopold präzise einstudiert und mischte auch bei den Bewegungsszenen beachtlich mit. Ebensolches gilt für den Kinder- und Jugendchor unter Ursula Wincor und die Mitglieder des Balletts.

Jubel und Begeisterung für Bühnen- und Grabenpersonal, ebenso wie für Produktions- und Autorenteam, minimale Mißfallensbekundungen, kompensiert durch betonten Applaus, für die Komposition.

H &P Huber

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Schlussapplaus: Anais Lueken, Mari Moriya, Katerina Hebelkova, Moritz Eggert, Rainer Mennicken. Copyright: H&P Huber

 

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