LINZ/ TANZ LINZ: „Shakespeare’s Dream“ von Andrey Kaydanovskiy
Mit seinem zweiten Stück für TANZ LINZ, im Dezember 2022 wurde sein „Dornröschen“ im Landestheater Linz mit großem Erfolg uraufgeführt, dringt der 1986 in Moskau geborene Tänzer und Choreograf Andrey Kaydanovskiy tief ein in das Seelenleben des zu den bedeutendsten Dramatikern zählenden englischen Dichters William Shakespeare (1564-1616). Inspiriert von einem Traum von einem bereits fertigen Tanzstück entstand ein vielschichtiges Werk über einen Künstler und seine Beziehungen zu seinen Figuren, den sie beheimatenden Stücken, der Qualität der Zeit ihrer Entstehung und damit auch über das Heute.

Andrey Kaydanovskiy Shakespeare’s Dream (c) Philip Brunnader
In zwei Akten, getrennt durch eine Pause, führt uns der Choreograf durch den Prozess der Entstehung des Stückes hin in die ambivalente Beziehung zwischen seinen Schöpfungen und Shakespeare selbst. Im ersten Teil, wenn Katharina Illnar die hinlänglich bekannten Anweisungen für das Publikum bezüglich Stummschaltung der Handies und Film- und Foto-Verbot verknüpft mit Warnungen der TänzerInnen vor dem Orchestergraben, dem Gassenlicht und dem 4,6 Grad geneigten Bühnenboden, treffen der Fantasie entsprungene Gestalten auf mit viel Humor gewürzte Bühnen-Realität.
Auf leicht schrägem, von grauen Mauern mit Toren umstandenen und per weißer Rechtecke strukturiertem schwarzen Bühnenboden, der sich auch in den Kostümen wieder findet (Karoline Hogl, die auch die Bühne gestaltete, mischte in ihren Kostümen 400 Jahre alte Elemente mit heutigen), und zu Musik und Sounddesign von Manu Mayr, der Song-Material und elektronische Klänge zu einem sich organisch in die Erzählung einfügenden akustischen Ko-Performer entwickelte, tanzen die 16 Mitglieder der Kompanie TANZ LINZ das mit theatralen Elementen angereicherte Stück.

(c) Philip Brunnader
Mischa Hall brilliert als vielschichtige Künstler-Persönlichkeit Shakespeare. Figuren aus seinen Werken werden erkennbar in Soli und Duetten: Die frisch verliebten Romeo und Julia, Ophelia, Hamlet oder Lady Macbeth (kraftvoll und ausdrucksstark: Angelica Mattiazzi). Das Ensemble insgesamt agiert (inzwischen gewohnt) hochkarätig (Kaydanovskiy lobt dessen Leichtigkeit und Präzision). Es stellt in ähnliche Kostüme gekleidet eine multiple Persönlichkeit Shakespeare auf die Bühne.
Die Macht eines Kreativen über seine Geschöpfe und seine Selbstherrlichkeit werden in barocker Gestik und elisabethanisch-höfischem Duktus inszeniert, gebrochen durch dessen Nachdenklichkeit, seine Zweifel und sein Ringen mit sich selbst und seinen Figuren, die ihm durch Hirn und Herz geistern, bevor er sie eigenhändig, variantenreich wie in seinen Stücken, mit Gift und Schwert und Dolch tötet.
Der zweite Teil des Stückes, obwohl düster, stellt den ersten in den Schatten. Hier spielt Christian Kass meisterlich auf der Klaviatur des Lichtdesigns und entführt damit in jene dunkle Welt der inneren Konflikte einer Künstlerpersönlichkeit, die gebeutelt wird von ihrer Ohnmacht gegenüber ihren eigenen Schöpfungen. Die Geister, die sie rief, erscheinen verhüllt in Nebel und Leintuch am Anfang von Akt 2.

(c) Philip Brunnader
Sie wenden sich gegen ihren Schöpfer. Das tänzerisch wundervoll in Duetten, Gruppen- und Ensemble-Szenen ins Physische übersetzte Ringen um Wahrhaftigkeit einerseits und die erdrückende Macht des (Theater-) Wirklichkeit gewordenen Unbewussten auf der anderen Seite werden spürbar. Die Szenerie ist Traum, Illusion und Fiktion. Und Spekulation. Denn über die Person Shakespeare ist fast nichts bekannt …
Wir erleben hier den zentralen Konflikt eines bewusst lebenden Menschen. Welchen Einfluss hat die Gesellschaft mit den sie prägenden Merkmalen auf den Einzelnen? In wie weit hat das Individuum diese Einflüsse „verinnerlicht“, sie also ins Unbewusste verdrängt respektive fallen lassen, die Kontrolle abgegeben an sie und sich somit einer es unbemerkt steuernden Macht unterworfen? Welche Glaubenssysteme resultieren und wie wirken diese auf (transparente) Überzeugungen, aus denen Denken, Wort und Handeln entspringen? Die Gesellschaft wird durch diese Abbildung ihrer selbst in der Psyche des Einzelnen zu einer sich perpetuierenden (Un-) Wertegemeinschaft.

(c) Philip Brunnader
Im Tanz wechselwirken der Kreative und seinen Kreationen, der Einzelne mit seiner Privat-Ideologie und die Gesellschaft mit ihrem Wertekanon, das Offensichtliche, bewusst Gelebte und das Verdeckte, Unbewusste, das Historische und möglich Zukünftige, Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Traum. Es ist, als würden wir ein getriebenes Genie durch eine seiner unruhigen Nächte begleiten.
Der Traum als Botschafter des Unbewussten an das Bewusstsein ist nicht nur Shakespeare’s Traum allein. Gewalt ist Teil des Menschen, den Shakespeare in seinen Stücken so facettenreich wie tief- und abgründig beschrieben hat. Seine Tragödien wie seine Komödien bringen sie ans Licht, gegossen in eine seiner Zeit entsprechenden Form. Gewalt wird zum unendlichen Kreislauf. Dessen Darstellung allein jedoch taugt nicht zu seiner Unterbrechung.
Kaydanovskiy’s Shakespeare fand die Gewalttätigkeit seiner Figuren in sich selbst und sich als Teil einer ebenso disponierten Gesellschaft. Opfer und Täter zugleich. Seine Schuldgefühle (blutige Hände strecken sich ihm vorwurfsvoll entgegen) erzeugen die melancholische Grundstimmung des 2. Aktes. Das durch die Bewusstwerdung der eigenen Verantwortung ausgelöste Erschrecken möge unserer Zeit und ihren Genossen durch ihre Glieder fahren. „Shakespeare’s Dream“ rüttelt kräftig an schlaftrunkenem Selbstbetrug. Durch moralisch-ethische und soziale Korsette nur im Zaum gehalten sucht sich die Gewalt ihre Wege in die menschlichen Beziehungsgeflechte auch heute, mit ungebrochener Kraft, subtiler nur.

(c) Philip Brunnader
Shakespeare’s Zerrissenheit ist die unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Sein Ringen um Wahrhaftigkeit wird zu einer ihn selbst und uns erschütternden inneren Gewissheit, der über die Macht der Gewalt, tief eingegraben ins gesellschaftlich und individuell Unbewusste und aus diesem heraus wirkend. Die sich stetig verändernden Formen sollen nicht täuschen über ihr Fortleben durch die Jahrhunderte. Es gilt, sie bewusst zu machen und also zu brechen. Der Monolog des Puck aus dem „Sommernachtstraum“, von Katharina Illnar abschließend dem zusammengesunkenen Dichter und dem Publikum ins Gewissen gesprochen, empfiehlt eben dieses. Somit wird „Shakespeare’s Dream“ auch zu Spiegel und Mahnung. Und zu einem großartig inszenierten und getanzten, begeistert aufgenommenen Traum von einer friedlicheren Welt.
„Shakespeare’s Dream“ von Andrey Kaydanovskiy mit TANZ LINZ im Landestheater Linz am 20.09.2025.
Rando Hannemann

