LINZ / Musiktheater: WONDERLAND – Ein Musical von Frank Wildhorn für die ganze Familie
11. September 2024 (Deutsche Erstaufführung 8.9.24)
Von Manfred A. Schmid
Unzählige Bearbeitungen für die Bühne haben die als Kinderbuchklassiker wie auch als Meisterwerke des literarischen Nonsens geltenden Bücher von Lewis Carroll (Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln) schon hervorgerufen. Beginnend mit einem Stummfilm aus dem Jahr 1903 und noch lange nicht enden wollend mit Kurt Schwertsiks Alice. Eine Phantastische Revue, die 2023 im Rahmen von wien modern uraufgeführt wurde. Laut Wikipedia gibt es zudem bereits 14 Musicals, die sich mit Alices Begegnungen mit skurrilen Figuren wie der Grinsekatze, dem Weißen Kaninchen und dem verrückten Hutmacher beschäftigt haben. Eines davon, Wonderland des überaus produktiven deutschen Komponisten Frank Wildhorn, mit Gesangstexten von Jack Murphy, erlebte 2009 einen veritablen Fehlstart am Broadway. Nach einer Umarbeitung des ursprünglich wohl allzu chaotischen Buchs durch Jennifer Paulson-Lee und Gabriel Barre kam es 2022 zu einem erfolgreichen Neuanlauf in den Vereinigten Staaten.
Nun ist das Musical erstmals in Europa zu sehen, natürlich im Musiktheater in Linz. Wo sonst? Wieder einmal hat die Linzer Musicalsparte die Nase vorn und dabei einen guten Riecher bewiesen. Die mit einer trefflichen Rahmenhandlung versehene Produktion besticht durch die ebenso bunte wie – insbesondere vor der Pause – atemberaubende Inszenierung von Christoph Drewitz und den fantasievollen Kostümen von Adam Nee, die in ihrem Erfindungsreichtum nicht zu übertreffen sind. Nee gelingt es, die geradezu unzähligen Figuren, die in der fiktiven Traumwelt die Wege von Alice kreuzen, beinahe zu unvergesslichen Charakteren zu machen: Wer hat denn schon einmal eine geöffnete Auster auf zwei Beinen gesehen? Zusammen mit der Bühne von Andrew D. Edwards, den Videodesign von Leo Flint und der rasanten Choreografie von David Hartland verwandelt sich die Bühne tatsächlich in ein knallfarbiges, mit vielen Überraschungseffekten aufwartendes Arsenal gewagter, kühner, herausfordernder Träume. Nicht zu vergessen die eingängige Pop-Rock-Musik von Frank Wildhorn und deren zügige Realisierung durch die famose Die Club-Wonderland-Band unter der bewährten Leitung von Tom Bitterlich. Ein Gitarren-Riff, vermutlich ausgeführt von Bruno Bründlinger, ist eines der musikalischen Highlights des Abends
Die von Eheproblemen heimgesuchte erwachsene Alice Cornwinkle (ausgezeichnet Valerie Luksch) die sich Sorgen um ihre Tochter macht und Familie und ihren stressigen Beruf als Chefentwicklerin von Computerspielen schon längst nicht mehr unter einen Hut zu bringen vermag, schläft erschöpft im Büro ein und findet sich urplötzlich im Wunderland wieder. Ein Prozess der Selbstfindung, provoziert von einer unbekannten, keineswegs heimeligen, sondern bedrohlichen, fremden Zauberwelt, nimmt seinen Verlauf. Eine Reise in das Innere ihrer Person, eine Reise zum Ich, auf der sie auch sich selbst als junges Mädchen trifft. Oder ist das nicht doch ihre Tochter Chloe (Helena Unger)? Die Situation ist verworren, die Handlung weiterhin ziemlich chaotisch und ungreifbar. Aber macht nicht gerade die Unbegreifbarkeit den Reiz der Vorlage aus, der mit Logik einfach nicht beizukommen ist und die ein Rätsel bleibt? Ein anregendes Rätsel, immerhin. Jede Menge Fragen, kaum Antworten.
Viele der Figuren, die Alice über den Weg laufen, entpuppen sich als verzerrte Gestalten aus ihrem wirklichen Leben, privat und geschäftlich. Eine davon, wohl die imposanteste, ist der Verrückte Hutmacher, knallig und mit einer gesanglich hinreißenden Auftrittsszene dargestellt von Sanne Mieloo. Sie, im beruflichen Leben von Alice deren Rivalin Maddie Quizzle, ist der eigentliche Bösewicht in dieser vertrackten Welt. Weitaus gefährlicher sogar als die Herzkönigin (Daniela Dett), die eine „Kopf ab!“-Strategie befürwortet, am Schluss aber die große Versöhnung im Happyend herbeiführen wird.
Enrico Treuse ist ein ausgezeichneter Chaz, aber was genau dessen Funktion sein soll, bleibt unklar. Ähnliches gilt auch für weiteren Figuren. Aber alles zu hinterfragen hätte bei einem so fantasievollen und der Unlogik frönenden Stück ohnehin keinen Sinn. Man nimmt sie am besten so, wie sie sind. Hingucker und Verwirrer: Das gutmütige Weiße Kaninchen (Christian Fröhlich), fast immer an der Seite von Alice zu sehen, das am Schluss die Wichtigkeit des Zusammenseins besingt, der Weiße Ritter, Max Niemeyer, der sie zu schützen vorgibt und als einziger, wer weiß warum, nicht überleben wird, Karsten Kenzel als wunderliche Raupe und Lukas Sandmann als El Gato, ein Schnurretier wie aus Lloyd-Webbers Cats.
Wonderland ist gewiss kein Kindermusical, hat aber das Zeug zu einem Familienmusical, das allen etwas bieten kann. Fesselnde Musik und rätselhafte Herausforderungen für die Erwachsenen sowie jede Menge Fantasie entzündende Fabelwesen für Kinder. Und da wir alle weiterhin wohl auch noch irgendwie Kinder geblieben sind, war der Applaus bei der fast nur von Erwachsenen besuchten Abendvorstellung mehr als überwältigend.