LINZ / Musiktheater: LA JUIVE
9. März 2024 (Premier 2. 3. 24)
Von Manfred A. Schmid
Fromental Halévys La Juive, über einen fatalen, fundamentalistisch geleiteten Religionskonflikt zweier verbohrter Männer, gehörte zu den meistgespielten Opern des 19. Jahrhunderts. Die beiden Hauptpersonen, Kardinal Brogni und der jüdische Goldschmied Éleazar, die in Konstanz während des Konzils 1414-1418 aufeinandertreffen, kennen einander schon aus Rom, als Brogni noch kein Kirchenmann, sondern Statthalter und verheiratet war, zwei Sohne Éleazars hinrichten ließ und bei einem Brand Frau und Tochter verloren hatte. Erst am Schluss, als er Rachel, die Tochter Éleazars, wegen ihrer per Todesstrafe verbotenen Liebe zum Reichsfürsten Léopold, auf dem Scheiterhaufen verbrennen lässt, erfährt er, dass Rachel sein verloren geglaubtes Kind ist, das von dem Juden vor den Flammen gerettet und aufgezogen worden war. Ein verstörender Racheakt, dem schwere Gewissenskonflikte eines Mannes vorausgegangen sind, der sich Repräsentant einer Gruppe von Menschen sieht, die seit Jahrhunderten immer wieder grausam verfolgt und vernichtet wird.
Die in der Zeit des Nationalsozialismus aus den Spielplänen verbannte Oper erlebt seit etwa 25 Jahren eine allmähliche Wiederentdeckung, wird aber trotzdem weiterhin nur sehr selten gespielt. Schon das allein ist Grund genug, dieser Oper wegen nach Linz zu reisen. Noch dazu, wo die Linzer Inszenierung gerade zu einer Zeit herauskommt, in der antisemitische Aktionen in Europa wieder vermehrt zu registrieren. Regisseur Marc Adam versetzt die Handlung, die gleich im ersten Akt von zwei antisemitische Gewaltaktionen geprägt wird, in eine ungefähre Jetztzeit, was durch Transparente, die von Protestierern hochgehalten werden, untermauert wird. Darauf ist u.a. „Remigration“ und „Soil and Blood“ die Rede.
Halévys Werk gehört zum Genre der französischen „Grand Opéra“, was – ähnlich den cineastischen „Blockbustern“ der Gegenwart – mit viel inszenatorischem Aufwand verbunden ist. Ein kühnes Unterfangen für ein Haus mittlerer Größe. Es ist freilich nicht das erste Mal, dass sich Linz diesem Genre zuwendet. Vor einigen Jahren gab es im Musiktheater beim Volkspark eine durchaus gelungene Aufführung von Giacomo Meyerbeers Le Prophète zu bewundern. Ausstattungsmäßig wird diesmal offensichtlich eingespart, wo und was nur möglich ist. Die Bühne von Dieter Richter begnügt sich mit einem großen, im Hintergrund von einer Wand mit einem großen runden Glasfenster begrenzten Raum, der, mit wenigen Attributen bestückt, sowohl als Schauplatz des 1. Akts (Platz vor dem Dom), des 3. (Festzelt in den Gärten der kaiserlichen Residenz) wie auch des 5. Akts (Saal im Gerichtsgebäude) herhalten muss. Die Wohnung von Éleazar und Rachel, in der im 2. Akt mit weiteren jüdischen Hausbewohnern ein Abendmahl mit einem feierlichen Gebet („Ô dieu de nos pères“) abgehalten wird, dient dann auch als Ersatz für den Gerichtssaal im 4. Akt.
Karg sind auch die Kostüme von Sven Bindseil. Rachel, im 1. und 2. Akt in einem weißen Kleid auftretend, will im dritten Akt die Wahrheit über ihren Geliebten herausfinden. Dazu möchte sie im Festzelt der Prinzessin Eudoxia, die bei ihrem Vater ein teures Schmuckstück für ihren Mann gekauft hat, für einen Tag als Dienstbotin arbeiten. Als ihr das gestattet wird und sie wiederkommt und dabei herausfinden muss, dass Léopold nicht nur kein Jude ist, wie er behauptet hat, sondern der Reichsfürst und noch dazu mit Eudoxia verheiratet ist, trägt sie – im Unterschied zum übrigen Gesinde – noch immer dasselbe Kleid, das sie dann auch beim Prozess und bei der Hinrichtung anhaben wird. Auch der Kirchenfürst Brogni tritt nur im ersten Akt kardinalrot auf und ist dann nur noch, ausstaffiert wie ein Landpfarrer, zu sehen. Da wird wohl falschen Platz gespart, was aber nicht so sehr ins Gewicht fällt. Kritischer ist anzumerken, dass der Regisseur die Massenszenen bei den Auftritten des fabelhaft singenden, von Elena Pierini bestens vorbereiteten Chores nicht dafür nützt, die sich oft lange dahinschleppenden Szenen zu beleben, sondern die Leute einfach nur verharren lässt. Sorgsamer geht er zum Glück bei der Personenführung der Hauptakteure vor.
Es muss hervorgehoben werden, dass das ganze Ensemble auf der Bühne ausschließlich mit Kräften aus dem Haus besetzt ist. Da würden wohl nicht so viele vergleichbare Häuser mithalten können. Es ist auch in erster Linie die musikalische Darbietung, die in Linz das Publikum begeistert. Yannis Pouspourikas am Pult des Bruckner Orchester Linz ist ein wacher, die Partitur voll auslotender und die Abstimmung zwischen der Instrumentalen Klänge aus dem Orchestergraben und den Gesang auf der Bühne hellhörig ausbalancierender musikalischer Leiter der Aufführung. Es gelingt ihm sogar, im langen Monolog Éleazars, als er mit sich und seinem Schicksal hadert und abwägt, ob er seinen vernichtenden Racheplan tatsächlich verwirklichen soll, an einer bezeichnenden Stelle der Musik Halevys Klezmer-Klänge zu entlocken.
Matjaz Stopinsek ist ein goßartiger Éleazar. Ein tief verwundeter, mit seinen Seelenqualen kämpfender Mann, dem übel mitgespielt wurde, der die Last der Erfahrungen seiner Väter nicht abzuschütteln vermag und sich auf ein gefährliches Rachegeschäft einlässt. Eine Vater, der seine Liebe und Sorge zu seiner Ziehtochter Rachel aufgibt und einen überaus problematisch bleibenden Schritt setzt. Der slowenische Tenor gelangt ein-, zweimal ,bei seinen starken Gefühlsausbrüche, stimmlich gefährlich an den Rand des Abgrunds, aber gerade damit erreicht er die Sympathien des Publikums, das mit ihm und seinem DiIemma mitleidet.
Erika Eloff, Éleazars Tochter Rachel, ist eine singuläre Erscheinung. Stimmlich imponierend sicher, manchmal fast zu überwältigend groß in diesem Umfeld, gestaltet sie die Rolle einer hingebungsvollen, liebenden Frau, die für den Geliebten und für ihre religiöse Überzeugung aufrechten Hauptes in den Tod geht.
Dominik Nekel ist eine Autorität ausstrahlender Kardinal, dessen mächtiger Bass bestens zu seiner Amtsfülle passt. Ein Kirchenmann, der durchaus auch liberales Gedankengut schätzt, aber, wenn es darauf ankommt, unerbittlich ist.
Mit makellosen Koloraturen ihres nicht sehr großen, dafür aber ungemein geschmeidigen, soubrettenhaften Soprans gestaltet Ilona Revolskaya die Rolle der kapriziösen, manchmal etwas schnippischen Prinzessin Eudoxie. Ihren untreuen Gatten verzeiht sie und bringt Rachel dazu, ihre wahrhafte Aussage gegen ihn zurückzuziehen und ihn so zu retten.
Der südkoreanische Tenor Seungjick Kim ist ein in Liebeswirren verlorener, kopflos reagierender Reichsfürst Léopold. Der Amerikaner Alexander York zieht als Großvogt Ruggiero, assistiert von Albert, Unteroffizier der Leibwache (Michael Wagner), mit seinem kraftvollen, wendigen Bass und starker Bühnenpräsenz die Aufmerksamkeit auf sich.
Die etwas gekürzte Linzer Version, es fehlen die für eine Grand Opéra verbindlichen Ballette und der große Einzug des Kaisers, dauert dreieinviertel Stunden und wird mit stehendem Beifall gefeiert. Voll zu Recht kann das Linzer Publikum stolz sein auf sein Operntheater und dessen jüngster Produktion.