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LINZ/ Musiktheater: IN 80 TAGEN UM DIE WELT oder WIE VIELE OPERN PASSEN IN EIN MUSICAL. Uraufführung

02.10.2016 | Operette/Musical

Uraufführung im großen Saal des Musiktheaters am Landestheater Linz am 1. Oktober 2016:

In 80 Tagen um die Welt
oder
Wie viele Opern passen in ein Musical?

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Riccardo Greco, Ariana Schirasi-Fard. Copyright: Barbara Palffy für Landestheater Linz

Musik von Gisle Kverndokk, Libretto von Øystein Wiik nach dem Roman „Le Tour du monde en quatre-vingts jours“ von Jules Verne
Deutsch und dramaturgische Einrichtung von Elke Ranzinger, Roman Hinze und Arne Beeker
In deutscher Sprache mit Übertiteln

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Der Librettist und der Komponist:  Øystein Wiik (links), Gisle Kverndokk (rechts). Foto: H &P Huber

Während die VBW inzwischen mit „Schikaneder“ ein rundes Dutzend an Uraufführungen absolviert haben, wagt sich nun erstmals auch die mit der Eröffnung des neuen Musiktheaters geborene Musical-Abteilung des Landestheaters Linz auf das dünne Eis einer eigenen. Wobei man dann noch dazu nicht nur eine einzige Oper als Angelpunkt hat wie das neue Wiener Musical, sondern gleich durch die ganze Literatur von etwa 1785 – 1925 pflügt.

Schon 1874, im Jahr nach dem Erscheinen des Romans, gab es dessen erste Bühnenfassung, u. a. mit Musik von Franz von Suppé, und in den letzten Jahren auch einige Musicals, die als Familienunterhaltung konzipiert waren, auch für die Oper Graz, 2009. Der Linzer Musicaldirektor Mathias Davids aber wollte etwas Anderes…

Nachdem er schon Anfang der 2000er für das Autorenduo in Oslo zwei Uraufführungen inszeniert hatte, trug Davids seine Idee diesen, die auch am Opernsektor aktiv sind (Kverndokk hat zudem in seiner Werkliste auch symphonische und Kammermusik stehen), am 23. 6. 2014 vor; von da bis zur heutigen Uraufführung sind es also 830 Tage… Im Gegensatz zu den bisherigen Werken nach dem Roman, die sich mehr oder weniger in den Kategorien, die Verne vorgab, bewegten, soll hier der Konflikt rein musikalisch symbolisiert werden: der Verstandesmensch und Exaktheitsfanatiker Phileas Fogg wird in seinem Fortkommen immer wieder von den mit der Oper assoziierten, vor allem emotionellen, Ereignissen gehemmt – und das auch mit Folgen für sein Weltbild. Eine Operette mischt auch mit: im Umkreis von Frau Glawari gerät er in Paris in ein Duell mit Graf Danilo. Und da die Handlung komplexer ist, als man in vernünftiger Zeit zu vernünftigen Kosten auf eine Theaterbühne bringen kann, werden Textbrücken von einem Erzählerduo aus dem englischen Volkstheater, nämlich Punch and Judy, gebaut, die auch gleich ein ganzes Tanz- und Chorensemble mitbringen, das je nach Schauplatz seine Kostüme zusätzlich ausstaffiert.

Gisle Kverndokk orchestriert und arrangiert, im Gegensatz zu den meisten heutigen Musicalkomponisten, selbst, hat also eine komplette Partitur vorgelegt, die im November 2015 in einem einwöchigen workshop in Linz zusammen mit den Interpretinnen und Interpreten den letzten Schliff erhielt.

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Rob Pelzer , Daniela Dett und Ensemble. Copyright: Barbara Palffy für das Landestheater Linz

Die Bühnengestaltung nimmt Bezug auf das Grundthema Geographie vs. Zeit, der countdown der 80 Tage für Fogg; eine Weltkarte etwa aus der Entstehungszeit des Romans steht im Zentrum (Bühnenbildner Hans Kudlich legt Wert darauf, daß diese gemalt und nicht mittels Computer gedruckt wurde!), Zifferblätter und die Skalierung eines Kompasses umschließen die Szenerie. Die Bilderwelten entsprechen dem (Buch)Illustrationsstil um 1870, wenn auch mit heutiger Technik garniert – z. B. dampft die abgebildete US-Dampflokomotive am Szenenvorhang, und das Meer wogt (Lichtdesign Michael Grundner, Videodesign von der Atzgerei). Trotz aller Haus-Technik ließ sich der Bühnenplan nur durch eine zusätzlich aufgesetzte, hydraulisch angetriebene Drehbühne verwirklichen – die konnte von „art for art“ aus dem Bestand einer alten Burgtheater-Inszenierung erworben werden. Damit hatte man eine extra rotierende schräge Fläche – mit 25 % Gefälle (wie z. B. die Turrach von Süden her…) für die Darsteller eine Herausforderung …

Die Kostüme sind für die Hauptfiguren im Wesentlichen nach dem späten 19. Jhd. gestaltet, aber bei den „exotischen“ tobte sich Susanne Hubrich mit köstlicher Phantasie aus, ohne in Klischees zu fallen – und wenn solche zitiert werden, dann immer nur mit Augenzwinkern und freundlicher Ironie.
Die Handlung wurde in wesentlichen Aspekten zum Roman und DER Verfilmung von 1956 mit David Niven und Cantinflas als Fogg & Passepartout geändert, insbesondere machen einige Figuren eine beträchtliche Wandlung im Laufe des Geschehens durch. Die größte Umstellung: aus dem Polizisten, der Fogg mit dem Verdacht die Bank of England ausgeraubt zu haben, verfolgt, wurde eine Privatdetektivin namens Fionula Fix – was zunächst in Hinblick auf die Zeit der Handlung zu Stirnrunzeln Anlaß gibt, aber im Laufe des Stückes sehr gut psycho- und soziologisch eingebaut wird. Ihre Motivation ist in diesem Musical nicht kriminologisch, sondern ein Auftrag von Mr. Stuart, Foggs Wettgegners, diesen am Fortkommen zu hindern.

Das Stück beginnt mit sozusagen klassischem Kasperltheater auf der Punch and Judy Bühne; es folgt eine kurze, durchaus zwölftönerische Einleitung, die uns in den Reform Club bringt, der, samt seinen Habituès, durch eine trockene Fuge über „Rule Britannia“ charakterisiert wird. Passepartout kommt gerade zurecht, als Fogg seinen langjährigen Diener hinauswirft, weil er ihm das Frühstück eine Minute zu spät serviert hat. Fionula stellt sich als „Frau ohne Schatten“ vor – im Sinne einer Person, die ungesehen observieren und intrigieren kann. Doch kann sie nicht umhin, alsbald recht sichtbar tätig zu werden: als Fogg in Paris, umrahmt von Lehár- aber auch Strauß-Anklängen, auf das montevedrinische Gartenfest von Frau Glawari gerät, setzt sie Graf Danilo außer Gefecht, schlüpft in dessen Rolle und fordert Fogg zum Duell, aus dem ihn Passepartout zum Bahnhof entführt, denn „Helden werden begraben, ein Feigling schafft es um die Welt“.

In Rom kommen unsere Reisenden gerade recht, als sich Floria Tosca von der Engelsburg stürzt; Fogg fängt sie auf und rettet ihr Leben, was Puccinis Heldin überhaupt nicht zu schätzen weiß und sich umgehend ersticht. Sciarrone & Co setzen Fogg (nicht ohne sachdienliche Hinweise von Fionula) fest. Und dann wechselt die musikalische Grundstimmung vom Verismo auf das frühe 19. Jahrhundert, denn: als Fogg ins Gefängnis geworfen wird, ruft er aus „Gott, welch Dunkel hier“ – was von einem dort schon länger Einsitzenden gar nicht goutiert wird, weil „das ist ja MEIN Text!“. Und dieser Florestan will auch im Gefängnis bleiben, als Passepartout als Barbier (aus Sevilla) auftaucht, um die Gefangenen vorgeblich zu rasieren, in Wirklichkeit aber zu befreien, denn „er bleibt im Gefängnis als Opfer der Wahrheit“.
In Suez wird Passepartout von Fionula in der Maske einer gewissen Salome (freilich mit mehr Affinität zu Robert Stolz als zu Richard Strauss) abgefangen und mit einer „altägyptischen Cannabisvariante“ sowie einer lasziven Rumba auf einem Teppich zum Fliegen gebracht.

Während der Pause passiert vieles, besonders die Rettung der indischen Prinzes
sin Aouda („sprich wie Gouda, nur ohne G“), was uns von der „Punch and Judy Reality Show“ nacherzählt wird; sogar der Dirigent wird vorübergehend von Punch entmachtet…
Passepartout hat seinen Chef samt den inzwischen zwei Begleiterinnen als Reisender im Maul eines Wals wieder eingeholt, und zwar ausgerechnet im Beijing von Turandot (und wohl auch Sou-Chong), die sich als skelettbehängte gelbseidene … na sagen wir Voodookaiserin präsentiert. Vor dieser landen Passepartout und Fogg und scheitern prompt an ihren Fragen. Die beiden werden von Fionula vor einem an E. A. Poe‘s Horrorgeschichte gemahnendem Pendelmesser als Hinrichtungsinstrument mittels einer Großleistung an Mathematik und Physik gerettet, denn sie hat inzwischen begriffen, daß ihr Auftrag kein sauberer ist; ihr Respekt vor Fogg ist gewachsen, ja Anzeichen von Liebe stellen sich ein. Auf der Überfahrt nach San Francisco wird der solchen Anwandlungen bislang völlig verständnislos gegenüberstehende Fogg (dem freilich die Art und Weise der Rettung aus Beijing sehr imponiert hat) vom approbierten Frauenversteher Passepartout aufgeklärt, was es mit Liebe und Verführungskünsten so auf sich hat – anhand des Prinzips, daß Operntexte Liebeslexika seien, von Mozart bis Puccini.
Versuche in der Praxis fallen freilich – bis auf ein sehr feines lyrisches Duett – vorerst noch unbeholfen aus, doch die Zudringlichkeiten von Minnie, dem Mädchen aus dem goldenen Westen (mit einem guten Schuß Mahagonny), öffnen Phileas endgültig die Augen für Fionula. Aber kaum gewonnen, so geht sie ihm auch schon verloren, denn man versäumt den letzten passenden Dampfer nach England – und als allerletzte Hilfe bietet sich der fliegende Holländer an, der ja die Liebe einer Frau zu seiner Erlösung benötigt…

Gisle Kverndokk
ist es gelungen, die Opernzitate auf höchst spannende und amüsante, absolut nicht epigonenhafte Weise einzuflechten, umzuformen und neue Beziehungen aufzubauen. Und wie viele Opern hier vertreten sind? Alleine in Passepartouts Lexikon-Couplet dürften schon ca. 30 vorkommen… Kverndokks Eigenkompositionen haben es gegenüber den vielen großen Einfällen aus 150 Jahren Operngeschichte naturgemäß nicht leicht, aber schlagen sich wacker und können auch ordentlich Emotionen wecken. Die (Gesangs)Texte wirken mitunter etwas hölzern, da wurde von den Autoren manchmal zu kompliziert gedacht – aber das ist leicht auszubügeln, denn im Grunde ist das Buch unzweifelhaft bestes Theater.

Zusammen mit der temporeichen Inszenierung von Matthias Davids (allenfalls gegen Ende des ersten Teiles gibt es einen minimalen Durchhänger) und der humorvollen Choreografie von Simon Eichenberger ergibt sich ein außerordentlich eindrucksvoller und intelligent unterhaltsamer Abend, von dem man aber auch einige Sachen zum Nachdenken mit nach Hause nimmt. Das höchst opern-, aber auch musical-erfahrene Bruckner Orchester liefert dazu den technisch ausgefeilten Untergrund, und Stefan Diederich leitet das Geschehen stil- und rhythmussicher, unabhängig vom momentanen musikalischen Idiom.

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Copyright: Barbara Palffy/ Landestheater Linz

Phileas Fogg wird von Alen Hodzovic als kalter Logiker mit very stiff upper lip, der im Laufe der so wechselvollen Reise sehr vieles begreifen lernt, eindrücklichst dargestellt; auch stimmlich ist er ein klarer „leading man“. Der uns seit Jahren (seit seinem „Carmen Ghia“ in den Wiener „Producers“) begeisternde Rob Pelzer spielt den schlitzohrigen Passepartout erwartungsgemäß mit großer vis comica und ebenso reichem musikalischen Vermögen. Als Fionula Fix kann uns Daniela Dett ebenso berühren wie zum Lachen bringen – eine zarte und doch großartige Bühnenpersönlichkeit! Anaïs Lueken ist eine feine Aouda (samt anderen Rollen).

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Karen Robertson. Copyright: Barbara Palffy für Landestheater Linz

An einem einzigen Abend elegante Hanna Glawari, (fast tief)tragische Tosca, zwischen Bedrohlichkeit und Schrägheit changierende Turandot und eine sehr … robuste Minnie zu sein, ist für Karen Robertson eine Aufgabe, auf die sie scheints genau gewartet hat – so viel Komödiantik und handfeste Spielfreude durfte sie in ihren bisherigen Opernrollen wohl kaum sprühen lassen, und dabei singt sie aus „In questa reggia“ und ähnlichen Spitzenarien. Großartig!

Der schrille, oft burleske Punch ist Riccardo Greco mit immenser Spielfreude, und seine Judy Ariana Schirasi-Fard ist seine kongeniale Partnerin – wunderbare Umsetzung einer guten Idee.
Düster, manchmal frösteln machend, der Gast Mark Sampson als Stuart und Holländer.
Der Chor des Landestheaters Linz mit seinen Solistinnen und Solisten vervollständigt das Bild in höchst erfreulicher Weise.

Begeisterter Applaus für Autoren, Produktionsteam, Orchester und die Darstellerriege.
Unser Resümee: ein musikalisch wie von der Idee her intelligent-witziges Werk, anspruchsvoll für Ausführende wie Publikum, von einem großartigen Ensemble wohl perfekt umgesetzt. Das Eis hat getragen!

H & P Huber

 

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