Darian Anderson Worrell und Ensemble. Foto: Sakher Almonem/ Landestheater
Linz: „CHESS“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 08. 06.2019
Musical in zwei Akten auf ein Libretto von Tim Rice und Björn Ulvaeus, Musik von Benny Andersson und Björn Ulvaeus; Deutsche Dialoge von Kevin Schroeder
Songs im englischen Original, deutsche Übertitel, deutsche und englische Bildschirmtitel
Halbszenische Aufführung
1970 traten die zwei Damen und zwei Herren, die nachmals als ABBA als die poppigste aller Popgruppen weltberühmt werden sollten, erstmals gemeinsam auf. Sie hatten zuvor und bis zu ihrem Durchbruch als Sieger des 19. Eurovision Song Contest, 1974 in Brighton abgehalten, in vielen unterschiedlichen Bereichen der Unterhaltungsmusik Erfahrungen gesammelt, auch Auftritte in Musicals waren drunter – beispielsweise war Agnetha Fältskog die schwedische Maria Magdalena in „Jesus Christ Superstar“.
Dessen Texter, Tim Rice, wollte eine neue Geschichte um ein weltpolitisch aufgeladenes Schachduell, so wie zuvor das überaus erfolgreiche Jesus-Musical, mit Andrew Lloyd Webber auf die Bühne bringen. Dieser war allerdings zu der Zeit tief in T. S. Elliotts Katzengedichte vergraben, machte bekanntlich auch daraus einen gewaltigen Bühnenhit. Über Umwege und die Vermittlung des Broadway-Produzenten Richard Vos, der Rice auf „Arbour“ (sic!) aufmerksam machte, kam schließlich die vorliegende Zusammenarbeit zustande.
Die Uraufführung fand – vorerst konzertant – 1984 statt, am 14. Mai 1986 sah man im Londoner Price Edward Theatre das Stück erstmals szenisch. Die groß orchestrierten Nummern „One Night in Bangkok“ und „I Know Him so Well“ wurden schnell zu Welthits.
Die seitherigen Aufführungen haben die Handlung mehrmals verändert, in den Grundzügen geht es aber immer um Schachspiele, die – zu Zeiten der späteren Phase des Kalten Krieges anhand der legendären Konfrontationen von Viktor Kortschnoi (UdSSR) und Bobby Fischer (USA) – gewaltige Publicity erhielten. Und es geht um ein anderes, existenziell im Grunde viel bedeutsameres Spiel: die Liebe – in diesem Fall konfliktträchtig zwischen der Managerin eines der Spieler zu dessen Gegner. Was letztendlich zu allerlei zynischen Machtspielen, Instrumentierung von Akteuren beider Seiten führt und keinen Raum für ein happy end läßt. Der erste Akt spielt in Meran, der zweite in Bangkok.
Christian Fröhlich, Ariana Schirasi-Fard, Gernot Romic. Foto: Sakher Almonem/ Landestheater
Die Musik ist zumindest anfänglich recht abwechslungsreich, wobei sich durchaus interessante stilistische Anlehnungen ergeben – der Beginn liegt irgendwo zwischen Strawinsky, Copland und Weill, ein durchaus dramatisches Quartett wurde an Rameau orientiert, und im zweiten Akt wird uns eine lange Reihe von Schachweltmeistern im Stil eines Verdi’schen Chores serviert: wenn mans kann, kann man aus den seltsamsten Ideen brauchbares und bisweilen wirklich witziges Musiktheater fabrizieren; sogar Hymnen passen da hinein. Allerdings überwiegt dann im zweiten Akt doch die bekannte ABBA-Stilistik, was etwas die Spannung aus der Sache nimmt. Auch erklingt die Eröffnungsnummer nach der Pause, Freddys „One Night in Bangkok“, mit nicht ganz so viel „Schmackes“ und drive, wie man von seinerzeit im Ohr hat; der andere der beiden Schlager, wenn auch typisches ABBA-Idiom, wird von den Darstellerinnen der Florence und der Svetlana aber wirklich intensiv über die Rampe gebracht.
Generell ist die musikalische Leitung durch Tom Bitterlich jedenfalls sehr gut gelungen. Auch wenn das Orchester im hinteren Teil der Bühne agieren muß und der Dirigent meist mit dem Rücken zu den Darstellern agiert, funktioniert, nach nur einer Orchesterprobe, alles flüssig und präzise. Das Bruckner Orchester, verstärkt durch eine rockgemäße Rhythmusgruppe, alles in allem knapp 40 Damen und Herren, überzeugt auch in diesem Genre mit Stilsicherheit und Präzision.
Eine „halbszenische“ Aufführung bedeutet Inszenierung ohne die Hilfe der theatralischen Illusionsmaschine; freilich, wenn man solche „Theatertiere“ wie diese Darstellerriege zur Verfügung hat, die man für eine gänzlich nichtszenische Aufführung wohl irgendwo anbinden müßte, ist die Arbeit von Petra Jagušić vielleicht nicht allzu schwierig gewesen… Auch die Choreografie (Lynsey Thurgar) funktioniert mit diesem exzellenten Personal, was auch den Chor und die tanzenden Schachfiguren einschließt, wunderbar; nicht zu vergessen die gelungenen Lichtstimmungen (Johann Hofbauer, Ivo Iossifov) und die komplexe, gleichwohl reibungslos funktionierende tonmeisterliche Betreuung (Robert Doppler und Jennifer Spohn).
Die eleganten Kostüme verantwortet Richard Stockinger, Choreinstudierung Elena Pierini, und für die Dramaturgie ist Arne Beeker zuständig.
Anaïs Lueken, Rafael Helbig-Kosta, Gernot Romic, Ariana Schirasi-Fard, Christian Fröhlich, Darian Anderson Worrell, Hanna Kastner. Foto: Sakher Almonem/ Landestheater
Der Schachweltmeister zwischen den Machtblöcken, Anatoly Sergievsky, ist Christian Fröhlich: hervorragender Musicaltenor, glaubwürdiger Schauspieler. Sein Gegenspieler Freddy Trumper, der am Schachspiel scheitert und das auch noch als TV-Kommentator des nächsten Titelkampfes nicht verwinden kann: Gernot Romic, der den unzufriedenen und unruhigen Geist ebenso kompetent und überzeugend auf die Bühne stellt.
Florence Vassy, 1956 unter Zurücklassung der Eltern aus Ungarn geflohen und nun Betreuerin des US-Spielers: die elegante, auch in den höchsten Höhen sicher intonierende Anaïs Lueken; auch die Zerrissenheit zwischen Verpflichtung, Zuneigung zum sowjetischen Schach-Star und das immer wieder hochkommende Trauma von 1956, das zudem von anderen instrumentalisiert wird, stellt sie authentisch dar. Svetlana Sergievskaya, als Gattin Anatolys ihre Rivalin, ist Hanna Kastner, mit ebenso guter, um einen Tick sanfterer Stimme.
Alexander Molokov, russischer Delegationsleiter, mit elegantem, opernerprobtem Bariton: Darian Anderson Worrell; sein US-Gegenstück Walter de Courcey ist mit dem Operstudiomitglied Rafael Helbig-Kostka besetzt, der nicht nur mit seinem sehr guten lyrischen Tenor, sondern auch mit authentischem US-Idiom punktet. Schiedsrichterin Ariana Schirasi-Fard steht zwischen, letztendlich aber darstellerisch überzeugend über den oft untergriffig streitenden Parteien. Zwei köstlich verschrobene britische Beamte, Modell Tweedledee and Tweedledum, sind in präzisester Abstimmung und Komik Christof Messner und Domen Fajfar.
Lindsey Thurgar, Gernot Romic, Christof Messner. Foto: Sakher Almonem/ Landestheater
Popchor (Raphael Groß, Wei-Ken Liao, Marlene Miesenberger und einige der Vorgenannten) sowie ein Tanzensemble mit Bianca Bauer, Pablo Delgado, Marie Hufnagel und Mateusz Krzysiak runden die letzte Neuproduktion am Landestheater für diese Saison ab, die vom Publikum mit standing ovations bedacht wurde.
Petra und Helmut Huber